Henrys Halluzinationen

Gastbeitrag von Lizas Welt
  • 0

Wenn man die Beiträge überregionaler deutscher Printmedien zum Thema Israel halbwegs regelmäßig studiert, kommt man um eine Erkenntnis nicht herum: Sowie es darum geht, die eigenen Korrespondenten samt ihrer Berichte durch so genannte Experten politisch und moralisch zu salvieren, sind es die immer gleichen Kronzeugen, die von FAZ bis taz und vom Spiegel bis zur Frankfurter Rundschau zum Interview oder an die Tastatur gebeten werden. Mal ist es Uri Avnery und mal Felicia Langer, mal Alfred Grosser und mal Moshe Zuckermann, mal Evelyn Hecht-Galinski und mal Rolf Verleger. Diese Damen und Herren haben dabei zwar stets nur die gewohnten frenetischen Anklagen gegen den jüdischen Staat zu bieten, aber die Stammkundschaft schätzt an ihrer Lieblingszeitung ja vor allem die Verlässlichkeit, mit der vertraute Positionen immer wieder aufs Neue heruntergebetet werden – schließlich ist die Wiederholung die Mutter aller Weisheit. Gelegentlich ist dieses Ritual aber sogar den Chefredakteuren zu fad, und immer dann ist es Zeit für eine so genannte Außenansicht, also für einen ins Deutsche übersetzten Artikel eines vermeintlichen Experten, den die Leser zwar noch nicht kennen, der aber qua Funktion und Herkunft für reichlich Authentizität bürgen soll.

Also ließ die Süddeutsche Zeitung unlängst Henry Siegman zu Wort kommen, den Präsidenten des US/Middle East Project und früheren Direktor des American Jewish Congress. „Israels falsche Freunde“ war seine Grundsatzerklärung markig überschrieben, und gleich in den einleitenden Zeilen brachte er sein Credo auf den Punkt, das zugleich das Vaterunser jedes Antisemiten ist, der mit der Zeit geht: „Die Europäer glauben, aus Sühne für den Holocaust müssten sie alle Taten des jüdischen Staats dulden – doch damit schaden sie ihm.“ Die „Israelkritik“ als ultimative „Lehre aus der Geschichte“ und als selbstloser Freundschaftsdienst also. Nun sind EU-weit nachweislich fast 60 Prozent allen Ernstes der Ansicht, dass Israel die größte Gefahr für den Weltfrieden darstellt, und im Nachfolgestaat des Dritten Reiches fühlen sich sogar 65 Prozent vom jüdischen Staat bedroht – so viel zum Thema „Sühne für den Holocaust“. Aber um solche Widersprüche schert sich natürlich nicht weiter, wer die hochgradig ideologische Botschaft zu vermitteln trachtet, dass Israel sozusagen hochoffiziell die Erinnerung an die Shoah missbraucht, Europa aus schlechtem Gewissen kuscht und damit eine „Lösung“ des „Nahostkonflikts“ nachgerade sabotiert wird.

Dabei könnte alles so einfach sein, hörte man nur auf Henry Siegman: „Selbst wenn man von allen Sünden absieht, die man den Palästinensern zuschreiben kann – ihre desaströse Führung, der missglückte Aufbau politischer Institutionen, die mörderische Gewalt der Widerstandsgruppen: Es gibt keine realistische Perspektive für einen souveränen palästinensischen Staat“, befand er. Warum man eigentlich von diesen „Sünden“ absehen soll, wäre schon interessant zu erfahren; schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass just sie es sind, die eine „realistische Perspektive für einen souveränen palästinensischen Staat“ verhindern. Doch für Siegman besteht die Misere zuvörderst darin, dass „die zahlreichen israelischen Regierungen von 1967 bis heute nie die Absicht hatten, einen solchen Staat Wirklichkeit werden zu lassen“, sondern stattdessen stets bezweckt hätten, „den Palästinenser-Staat so lange hinauszuzögern, bis bestimmte Sicherheitsbedürfnisse erfüllt sind“; zudem hätten sie „die Räumung und Teilung palästinensischen Landes“ auf eine Weise betrieben, „bei der jedes Kind weiß, dass sie einen palästinensischen Staat unmöglich macht“.

Was Kinder wissen, weiß Siegman also ganz genau, aber das erstaunt angesichts seiner eigenen infantilen Auffassungsgabe auch nicht sonderlich. Israel kann tun und lassen, was es will – es ist in den Augen von Siegman und Seinesgleichen immer falsch, bösartig, reine Taktik oder alles auf einmal: Israel kann den Palästinensern in Verhandlungen weit reichende Angebote machen – um sich hinterher anzuhören, dass es „nie die Absicht hatte, einen palästinensischen Staat Wirklichkeit werden zu lassen“. Es kann aus dem Gazastreifen abziehen – um sich anschließend sagen zu lassen, dass es genau dadurch „einen palästinensischen Staat unmöglich macht“. Es kann die selbstverständliche Forderung stellen, nicht mit Selbstmordattentätern und Raketen angegriffen zu werden – um hernach vorgehalten zu bekommen, „den Palästinenser-Staat hinauszuzögern“. Damit ist Siegman aber noch lange nicht am Ende: „Angesichts der überwältigenden Ungleichheit der Kräfte zwischen Besatzern und Besetzten wundert es wenig, dass israelische Regierungen einen regelrechten Heißhunger auf palästinensisches Land entwickelt haben.“ Es ist wohl das erste Mal in der Geschichte, dass einem Staat ein Rückzug als Expansionsdrang ausgelegt wird. An der grenzdebilen Logik solcher Auslassungen stößt sich aber niemand, denn Realitätsfremdheit ist ein wesentliches Prinzip der „Israelkritik“.

Und weiter geht’s: „Solange Israel glaubt, sich mit dem Hinauszögern des Friedensprozesses Zeit kaufen zu können, um unwiderruflich Fakten zu schaffen – solange kann kein Friedensprozess gelingen“, glaubt Siegman. „Und wenn die Völkergemeinschaft Israel weiterhin die Behauptung abkauft, sein Wunsch nach einer Zwei-Staaten-Lösung werde durch die Palästinenser enttäuscht, wird deren Vertreibung in der Tat unumkehrbar.“ Die Palästinenser sind in Wahrheit nämlich die größten Fans einer Zweistaatenlösung, weshalb sie zu Beginn des Jahres 2006 auch bevorzugt die Hamas gewählt haben, die bekanntlich tagein, tagaus nichts anderes tut, als mit vielfältigen und kreativen Mitteln (wie Brandreden, Raketen und menschlichen Bomben) für eben diese Lösung einzutreten und ihren „Vertriebenen“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Für Letzteres hat man hierzulande natürlich besonders viel Verständnis; die Palästinenser sind ja quasi so etwas wie die Sudetendeutschen des Nahen Ostens.

Fast noch schlimmer als israelische Regierungen findet Siegman allerdings die europäischen Obrigkeiten; schließlich seien sie es, die „vor dem Hintergrund ihrer Schuld am Holocaust“ den jüdischen Staat so überaus nachsichtig behandelten und ihm dadurch bei der Palästinenserquälerei den Rücken frei hielten. Das müsse ein Ende haben, fordert er: „Was von den Staats- und Regierungschefs nun verlangt wird, sind keine weiteren Friedenskonferenzen oder clevere Korrekturen früherer Erklärungen – sondern der moralische und politische Mut, ihre Kollaboration mit jenem Riesenschwindel zu beenden, zu dem der Friedensprozess geworden ist.“ Und für diesen „Riesenschwindel“ zeichne nun einmal Israel verantwortlich, meint Siegman, der stattdessen auf die so uralte wie erwiesenermaßen grundfalsche Formel „Ende der Besatzung = Frieden“ setzt. Doch er geht sogar noch weiter und behauptet, Israels „Pläne für das Westjordanland“ seien „nicht viel anders als die der arabischen Streitkräfte, als sie 1948 den Staat Israel angriffen – ihr Ziel war die Annullierung des UN-Teilungsplans von 1947“.

Dieser besonders dreiste Geschichtsrelativismus eröffnet den „Israelkritikern“ eine ganz neue Option: Wem die allseits beliebte Ansicht, die Juden verführen mit den Palästinensern genauso wie dereinst die Nazis mit den Juden, dann doch einen Tick zu hart ist, stellt sich jetzt einfach auf den Standpunkt, die Israelis handelten heute wie die Araber damals. Dabei muss man praktischerweise noch nicht einmal die allfällige Legende von der „Naqba“ aufgeben, denn die verträgt sich bestens mit dieser völligen Verdrehung von Ursache und Wirkung. Womöglich erfährt man von Henry Siegman demnächst auch, dass die Palästinenser den UN-Teilungsplan, von der Weltöffentlichkeit unbemerkt, längst anerkannt haben. Zuzutrauen ist es einem, der kürzlich in der International Herald Tribune lautstark „Bring in Hamas!“ forderte, allemal. Und dann ist in der Süddeutschen oder einem anderen „israelkritischen“ Organ die nächste „Außenansicht“ fällig.

Henrys Halluzinationen

Gastbeitrag von Lizas Welt
  • 0
AUTHOR

SPME

Scholars for Peace in the Middle East (SPME) is not-for-profit [501 (C) (3)], grass-roots community of scholars who have united to promote honest, fact-based, and civil discourse, especially in regard to Middle East issues. We believe that ethnic, national, and religious hatreds, including anti-Semitism and anti-Israelism, have no place in our institutions, disciplines, and communities. We employ academic means to address these issues.

Read More About SPME


Read all stories by SPME