Antisemitismus von links in der Endlosschleife?

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Im Januar 2002 wurde die erste Folge der Sendereihe Antisemitismus von links ausgestrahlt: die Dokumentation des zweiten Teils von Karl Marx’ Schrift „Zur Judenfrage“. Die Redaktion 3 des FSK produzierte seitdem über ein Dutzend Folgen, in denen ein Teil der bis dahin erschienenen wissenschaftlichen Literatur zum Antisemitismus in der politischen Linken präsentiert wurde. Seitdem laufen diese Folgen fast jeden Dienstag. Warum?

1999 hatte es im FSK den ersten Konflikt über einen antisemitischen Beitrag gegeben. Die Radiogruppe Freunde der guten Zeit brachte einen Nachruf auf den verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis. Der Nachruf klang so:

„Und zum Schluß aus aktuellem Anlaß zum Tode von Ignatz Bubis: Wieder wird aus Ermangelung von Klassenbewußtsein um der Leere des heutigen linken Daseins aus einem liberalen Kapitalisten, Ausbeuter, Spekulanten ein Antirassist. Warum? Weil er ein Jude war? Als ob das ein Persilschein sei! Jahrzehntelang gehörte Bubis zu dem kapitalistischen Vorstand der jüdischen Gemeinde Frankfurts. Er hatte so viel mit den jüdischen Proletariern zu tun wie Axel Springer mit den Zeitungsverkäufern. Es gab in der letzten Zeit einen Richtungsstreit innerhalb der Leitung der jüdischen Gemeinde Deutschlands, dem Zentralrat. Die einen, die aus der SU auswandernde Juden, die in die BRD aus/einwandern wollten, hier nicht haben wollten, sie direkt nach Israel weiterschicken wollten. Und die anderen, die es diesen zubilligten, ihre Entscheidung selbst zu treffen. Bubis gehörte zu dem liberalen Flügel, nicht wie Galinski,der sie in Israel sehen wollte – Israel, das trotz großer Opposition im eigenen Land bis heute die Palästinenser terrorisiert.“

Ein halbes Jahr später folgte der zweite Streit, nachdem in der Sendung Knast und Justiz ein Interviewgast unwidersprochen vom „Holocaust“ an den Palästinenserinnen und Palästinensern sprechen und ausführen konnte, dass Israelis durch die Entschädigungszahlungen der BRD zu einem unglaublichen Reichtum gekommen wären. In beiden Fällen wurden „Juden“ mit Kapital und ungeheurem Reichtum identifiziert und der israelische Staat ausschließlich als Mittel zur Unterdrückung dargestellt. Der Streit um diese Sendungen machte die Dringlichkeit deutlich, sich mit der Gefährlichkeit von antisemitischen Denkweisen in der radikalen Linken kritisch auseinanderzusetzen. In der Forschung unbestritten ist, dass Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion in der Jossif Wissarowitisch Stalins verfolgt wurden, weil sie angeblich Teil einer „internationalen Verschwörung“ seien. Wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und nach der Shoah wurden zehn Ärzte, die aus jüdischen Familien stammten, angeklagt, sie hätten geplant, Stalin zu ermorden. Zur gleichen Zeit wurden in der CSR Rudolf Slánsky, der ehemalige Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, und 13 weitere Menschen aus jüdischen Familien vor Gericht gestellt und in Schauprozessen verurteilt, weil sie als „zionistische Agenten“ für den „US-Imperialismus“ gearbeitet

hätten. Im Zusammenhang mit diesem Prozess kam es zu einer Verfolgungswelle, in der insgesamt 178 Todesurteile vollstreckt und über 50 000 Menschen inhaftiert wurden. 1953 wurden in der DDR Paul Merker und Vertreter der Jüdischen Gemeinde verhaftet, weil sie heimlich für den „amerikanischen Imperialismus“ arbeiten sollten. „Zionist“ war während dieser Verfolgungswellen nur ein Tarnbegriff für „Jude“.

Wie in Osteuropa so besteht auch in Westeuropa in der radikalen Linken eine längere Tradition des antisemitischen „Antizionismus“. Zwar misslang der Bombenanschlag der Tupamaros Westberlin auf die jüdische Gemeinde Berlin am 9.

November 1969. Aber dieser Anschlagsversuch wurde als Auftakt zu einer revolutionären Stadtguerilla angesehen. Das Datum des Anschlags hatte die symbolische Bedeutung, dass „die Juden“ selbst zu Nazis geworden seien und die Palästinenserinnen und Palästinenser „ausradieren“ wollten. Jedes Gedenken an die Pogromnacht im Deutschen Reich in der BRD, schrieben die Tupamaros in ihrer veröffentlichten Erklärung, unterschlage, “daß die Kristallnacht von 1938 heute tagtäglich von den Zionisten […] wiederholt wird“.

Bereits vor 1945 reproduzierten Kommunistinnen und Kommunisten das Stereotyp, Juden seien reich und mächtig, gehörten zum Kapital und übten ihre Macht vor allem im Verborgenen aus. 1923 versuchte Ruth Fischer, Mitglied der Zentrale der KPD, völkische Studierende mit diesem Argument für die kommunistische Bewegung zu gewinnen:

„Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner…?“

Für das „Judenkapital“ gab sie keine Namen an – identifizierte es aber einfach mit den „Börsenjobber[n]“, während sie das deutsche Großkapital mit Namen nannte. So gab sie ihrem völkischen Publikum darin Recht, dass ein Zusammenhang zwischen „Juden“ und „Kapital“ bestand. Bereits im 19. Jahrhundert formulierten die Anarchisten Pierre Joseph Proudhon und Michael Bakunin wahnhafte Hassausbrüche über „die Juden“, veröffentlichten diese allerdings nie. Gleichwohl stellt sich bei der Lektüre die Frage, wie es kam, dass sich ihre Aussagen so sehr ähnelten. Proudhon schrieb:

„Juden. Ein Artikel gegen diese Rasse schreiben, die alles vergiftet, die alles in sich hereinfrißt, ohne sich jemals mit einem anderen Volk zu vermischen. Zu fordern ist ihre Austreibung aus Frankreich mit Ausnahme jener Individuen, die mit Franzosen verheiratet sind; ihre Synagogen abreißen, ihnen keine Anstellung gewähren, endlich auch ihren Kult aufheben. […] Der Jude ist der Feind der Menschengattung. Man muß diese Rasse nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten.[…] Das, was die Völker des Mittelalters instinktiv haßten, hasse ich reflektiert und unwiderruflich. Der Haß gegen die Juden, wie auch der Haß gegen die Engländer, muß ein Artikel unseres Glaubensbekenntnisses werden.“

Bei Bakunin klang das so:

„Nun, diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hinweg – diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung. Ich bin sicher, daß die Rothschilds auf der einen Seite die Verdienste von Marx schätzen und daß Marx auf der anderen Seite instinktive Anziehung und großen Respekt für die Rothschilds empfindet.“

Mit der Sendereihe „Antisemitismus „Antisemitismus von links“ wollte die Redaktion 3 des FSK dazu anregen, über die Gründe solcher Denkweisen zu diskutieren. Diese Anregung war von der Hoffnung getragen, dass weitere Informationen über die Geschichte antisemitischer Denkweisen innerhalb der anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Linken dazu führen werden, dass über das Problem sachlicher und fundierter diskutiert werden kann.

Zeitgleich eskalierte der Konflikt innerhalb der Linken in Deutschland. In mehreren Städten wurden seit Ende der 1990er-Jahre Antideutsche oder Linke, die sich gegen Antisemitismus engagierten, bedroht und angegriffen. 2003 wurde in Berlin unter dem Schlachtruf „Hier sind die Zionisten!“ ein Linker zusammengeschlagen, ein zweiter mit einem Messer schwer verletzt. Auch im FSK kam es zu tätlichen Angriffen. Nachdem 2002 in der Sendung Afrika, Asien, Lateinamerika – In Kontakt die Situation der Menschen in den besetzten Gebieten Palästinas und der Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto gleichgesetzt wurde, beschloss die AnbieterInnengemeinschaft des FSK, die Ausstrahlung dieser Sendereihe bis zur weiteren Klärung auszusetzen. Der Beschluss wurde von In Kontakt übertreten, In Kontakt sendete weiter. Als andere FSK-Aktive dies eine Woche später durch eine Sitzblockade verhindern wollten, wurden sie von In Kontakt-Mitgliedern und -Sympathisierenden als „Mossad-Agenten“ beschimpft und tätlich angegriffen. Eine Person wurde von mehreren In Kontakt-Sympathisanten zusammengetreten. Der aggressivste Schläger war übrigens, wie der Moderator von In Kontakt, ein Deutscher, der wegen seiner bekannten Gewalttätigkeit schon in vielen linken Projekten Hausverbot hatte.

Was dann passierte, war zu Recht für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbar: Es gelang dem In Kontakt-Umfeld, Einwände und das Vorgehen gegen die antisemitischen Beiträge im FSK als „Rassismus“ zu diffamieren. Da das FSK nicht fernab der deutschen Gesellschaft existiert, ist es sicherlich auch nicht gänzlich frei von rassistischen Strukturen. Aber es ist befremdlich, dass dagegen erst im Zusammenhang mit Gewalttätigkeiten und der Wahnidee, FSK-Aktive wären „Mossad-Agenten“, massiv protestiert wurde. Es waren auch nicht Palästinenserinnen und Palästinenser, die sich hinter In Kontakt stellten, sondern neben deutschen Antiimperialisten vor allem Teile der lateinamerikanischen Radiogruppe Voz Latina und des türkischen Radio Göçmen. Dass es weiterhin zu Bedrohungen einzelner FSKMitglieder durch dieses Milieu kommt, war im Transmitter 09/2007 nachzulesen.

Bereits die kritische Beschäftigung mit Antisemitismus wird von einigen Linken als „imperialistisch“ oder „faschistisch“ diffamiert und verdächtigt, der Linken zu schaden. Von dem Anspruch, den Friedrich Engels 1890 formuliert hatte, dass das Proletariat mit dem Antisemitismus „nichts zu schaffen haben“ könne, ist die radikale Linke nach wie vor weit entfernt. Ein Teil der Linken weiß nicht, wie der Antisemitismus zu bekämpfen ist, der andere Teil der Linken wüsste gar nicht, warum.

Seit Ende 2002 wurden keine neuen Folgen für „Antisemitismus von links“ mehr produziert. Das ist bedauerlich. Der Sendeplatz ist nach wie vor für alle offen, die durch eine kritische Analyse deutlich machen, wie die Linke sich von antisemitischen Denkweisen emanzipieren könnte. Solange das nicht passiert ist, sind Sendungen auf diesem Sendeplatz im FSK nötig.

Redaktion 3

Alle Folgen der Sendereihe lassen sich unter folgender Adresse downloaden:

http://www.freie-radios.net/reihen/antisem.php

Literatur:

Knud Andresen: Das „äußerst komplizierte Palästinaproblem“.Antizionismus und Antisemitismus in der Agit 883, in: rotaprint

25 (Hg.): agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, Hamburg/Berlin 2006, S. 157-169.

Matthias Brosch/u. a. (Hg.): Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, Berlin 2007.

Micha Brumlik/Doron Kiesel/Linda Reisch (Hg.): Der Antisemitismus und die Linke, Frankfurt am Main 1991.

Initiative Sozialistisches Forum (ISF): Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und linksdeutsche Ideologie, Freiburg im Breisgau 2000/2002.

Iring Fetscher (Hg.): Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg 1974.

Thomas Haury: Antisemitismus von links. Nationalismus, kommunistische Ideologie und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002.

Rosemarie Leuschen-Seppel: Sozialdemokratie und Antisemitismus. Die Auseinandersetzungen der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus 1871-1914, Bonn 1978.

Arno Lustiger: Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 2002.

Gruppe MAGMA: „… denn Angriff ist die beste Verteidigung“. Die KPD zwischen Revolution und Faschismus, Bonn 2001.

Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus (1979), übersetzt von Dan Diner und Renate Schumacher, in: ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg 2005, S. 165-194.

Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main 2004.

Birgit Schmidt: Kein Licht auf dem Galgen. Ein Beitrag zur Diskussion um KPD/SED und Antisemitismus, Münster 2006.

Edmund Silberner: Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983.

Ingrid Strobl: Das Feld des Vergessens. Jüdischer Widerstand und deutsche „Vergangenheitsbewältigung“, Berlin/Amsterdam 1994.

Enzo Traverso: Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843-1943), übersetzt von Astrid St. Germain, Mainz 1995.

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