Efraim Karsh: «Wir lassen uns einschüchtern»

Interview von Hanspeter Born mit Efraim Karsh
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http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2007-06/artikel-2007-06-wir-lassen-uns-einschuechtern.html

Das Buch von Efraim Karsh:
Imperialismus im Namen Allahs
ist über
SPMEMart
erhältlich.

Efraim Karsh ist Mitglied des Board of Directors von SPME.

Der Historiker Efraim Karsh sieht den Hass der Islamisten auf das Abendland vor allem in einem Streben nach Weltherrschaft begründet. Der Westen solle aufhören, die Schuld für den Konflikt stets bei sich selbst zu suchen.

Herr Professor Karsh, wieso hassen viele Muslime Amerika?
Ich glaube nicht, dass gewöhnliche Muslime notwendigerweise Amerika hassen. Aber die Tatsache besteht, dass die Vereinigten Staaten seit sechzig Jahren die erfolgreichste und grösste Supermacht sind. Als solche stellen sie für diejenigen, die wir Islamisten nennen, das Haupthindernis dar. Sie stehen den Islamisten, welche die Botschaft Mohammeds oder des Islam über die Welt hinweg verbreiten und die weltweite Umma – muslimische Gemeinschaft – oder das Kalifat schaffen möchten, im Weg. Deshalb muss Amerika angegriffen werden.

Sie sehen also keinen Zusammenhang mit der aggressiven amerikanischen Aussenpolitik?
Ich glaube nein. Der Hass hat definitiv nichts zu tun mit der amerikanischen Nahostpolitik oder der amerikanischen Aussenpolitik generell.

Dies jedoch ist die Rechtfertigung, die von Islamisten für ihre Angriffe auf amerikanische Ziele gegeben wird.
Nicht von Bin Laden selber.

Rechtfertigte Bin Laden seine Fatwa gegen die USA nicht mit der Stationierung amerikanischer Truppen im Lande der heiligen Stätten Mekkas und Medinas?
Dies war bloss Teil der Rechtfertigung. Bin Laden spricht von der Demütigung der muslimischen Gemeinschaft nach der Zerstörung des Osmanischen Reichs – etwas, das vor achtzig Jahren geschah -, dann spricht er von der Tragödie des Verlusts von Andalusien – etwas, das 1492 geschah -, dann sieht er sich selber als Reinkarnation Mohammeds, als jener aus Mekka auszog. Bin Laden denkt in Jahrtausendzeitspannen. Für ihn besteht der Kampf für die Durchsetzung der wahren Religion in der Welt seit dem 7. Jahrhundert, und er selber betrachtet sich als den neuesten Kämpfer oder Mudschahed, der den Kampf ins Herzland des Westens trägt.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Geburt des Islam sei untrennbar mit Imperialismus gekoppelt und dieser imperiale Traum lebe fort.
Sicher. Mohammed war im Gegensatz zu Jesus nicht nur ein Prediger und Prophet, er war ein Politiker, er war ein Krieger und der Führer einer Gemeinschaft. Nachdem er von Mekka nach Medina gezogen war, im Jahre 622 – dem Jahr, das die Muslime als den Anfang ihrer Zeitrechnung betrachten -, verbrachte er die letzten zehn Jahre seines Lebens damit, seine Feinde zu bekämpfen und seinen Herrschaftsbereich auszudehnen. Er errichtete eine muslimische Gemeinschaft, die sich ständig weiter verbreiten sollte, damit die wahre Religion immer weitere Kreise erfassen würde. Dieser Kurs wurde von Mohammeds Nachfolgern fortgesetzt. Zehn Jahre nach Mohammeds Tod besassen die Muslime bereits ein riesiges Reich, das den grössten Teil des Nahen Ostens und Nordafrikas umfasste. Nachher besetzten sie wichtige Teile Indiens und Spaniens.

Das war vor mehr als tausend Jahren, und das letzte muslimische Reich, das Osmanische, zerbrach nach dem Ersten Weltkrieg.
Ja, aber in den 1200 Jahren zwischen dem 7. Jahrhundert und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1918 standen der Nahe Osten und grosse Teile Europas und Asiens unter islamischer Herrschaft, und diese islamischen Reiche basierten alle auf islamischen Prinzipien. Es gab keine Trennung zwischen Kirche und Staat; die Muslime waren die herrschende Elite und die andern ihre Untertanen. Gewiss, das Reich wurde vor achtzig Jahren zerstört, aber das Erbe ist geblieben, und der Traum einer Wiedererrichtung dieser Ordnung verschwand nie. Unmittelbar nach dem Untergang des Osmanischen Reiches tauchten zwei parallele islamische Träume auf. Der eine, begrenztere, war der Panarabismus oder der arabische Nationalismus, der nach der Schaffung eines vereinigten Reiches auf dem Gebiete des Nahen Ostens trachtete, welches in jedem Fall ein islamisches, allerdings ein arabisch-islamisches Reich gewesen wäre. Der andere Traum, der ein islamisches Reich neu aufleben lassen wollte, wurde von Gruppen wie den Muslimbrüdern und andern vertreten. Mit der Gründung der Islamischen Republik Iran 1979 trat ein Staat auf den Plan, der ganz offen die Beherrschung der Welt anstrebt. Dies führte zum Krieg zwischen dem Iran und dem Irak mit Millionenverlusten, welcher den Iran eine Zeitlang schwächte. Bald einmal jedoch nahmen die Iraner ihre ehrgeizigen Bestrebungen wieder auf, wobei ihr Anspruch auf Nuklearwaffen eine Rolle spielt.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie alle bisherigen islamischen Reiche an internen und externen Rivalitäten zugrunde gingen. Könnte dies mit den Islamisten heutiger Tage nicht wieder passieren?
Dies geschieht heute im Irak, wo Muslime Muslime töten – sie töten zwar gelegentlich auch amerikanische Soldaten, doch Aberdutzende und Aberdutzende von Muslimen werden von Muslimen umgebracht. Dasselbe gilt für Algerien oder den Sudan, wo Hunderttausende von Muslimen von Muslimen getötet worden sind. Mohammed schuf das Prinzip muslimischer Solidarität, eine ideologisch und politisch sehr wichtige Vorschrift, weil die Loyalität zum Islam an die Stelle von Blutverwandtschaften und anderen Bindungen zu Stämmen oder Clans treten sollte. Es ist Muslimen untersagt, gegen andere Muslime zu kämpfen, weil ihre Aufgabe sein sollte, sogenannte Ungläubige zu töten. In Tat und Wahrheit begannen die Muslime schon kurz nach Mohammeds Tod einander zu bekämpfen. Im Laufe der Geschichte sind viel mehr Muslime durch Muslime umgekommen als durch Christen.

In der Theorie allerdings stehen sich das Haus des Islam und das Haus des Kriegs von jeher feindlich gegenüber. Die Islamisten führen gerne die Kreuzzüge ins Feld, wenn sie von der Bedrohung ihres Glaubens durch die USA und deren Verbündete reden.
Dies ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, ein politisches Instrument der Islamisten. Als die Kreuzzüge stattfanden, waren sich die meisten Muslime gar nicht bewusst, dass es so etwas gab. Zwar kam es am Anfang der Kreuzzüge, als die Kreuzfahrer Palästina und Jerusalem besetzten, zu einigen Massakern und Kämpfen, aber dann liessen sich die Kreuzfahrer nieder, gründeten Königreiche in der Levante und lebten sich dort ein. Sie kollaborierten mit den Muslimen, und es gibt unzählige Episoden von muslimischen Herrschern, die mit christlichen Herrschern gegen andere muslimische Herrscher zusammenspannten, und von christlichen Herrschern, die sich mit muslimischen Herrschern gegen christliche Herrscher vereinigten. Unter lokalen Imperialisten gab es eine Interessenübereinstimmung, gegenüber der die Religion in den Hintergrund trat. Im 20. Jahrhundert haben Islamisten – und Panarabisten vor ihnen – einen Mythos erfunden, wonach die Kreuzzüge einen vereinigten Einfall Europas ins vereinigte Haus des Islam darstellten – was nicht der Sicht entspricht, welche die Zeitgenossen hatten. Es stimmt, dass die Kreuzritter Jerusalem den Muslimen wegnahmen. Ja und? Jerusalem war keine grössere Stadt, es war für die damaligen islamischen Regime nicht wichtig. Bagdad war die Hauptstadt des Reichs, Mekka und Medina waren die heiligen Stätten – Jerusalem war in der islamischen Weltordnung eine zweitrangige marginale Stadt. Bevor Jerusalem muslimisch wurde, war es jüdisch und dann römisch. Weshalb also das Getue?

Wieso ist der Islamismus so aggressiv geworden, und wieso hat er derartig Auftrieb?
Der Islam ist das organisierende Prinzip im Nahen Osten seit dem 7. Jahrhundert. Die imperiale Ordnung stützte sich immer auf die Religion. Historisch gab es im Nahen Osten nie einen Nationalismus. Die Menschen haben sich nicht als Araber gefühlt. Der Panarabismus ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, die von gewissen Eliten gemacht wurde, um ihre eigenen Zwecke zu verfolgen. Der Islam, der dominierende Faktor während 1400 Jahren, wurde vorübergehend in den Hintergrund gedrückt, aber ist dann wieder hervorgetreten. Die Leute im Nahen Osten sind immer noch auf eine Weise fromm, wie es die Europäer in den letzten beiden Jahrhunderten nicht mehr gewesen sind. Deshalb würde ich sagen, dass die Schaffung sogenannt weltlicher Regime wie der Baath-Partei im Irak oder Syrien eine Abweichung waren. Der Islamismus geht dem Volk viel näher als diese Regime. Sehen Sie doch, was im Irak geschah. Als Saddam Hussein unter Druck geriet, begann er sich plötzlich als guter Muslim zu gebärden und setzte den Satz «Allah ist gross» auf die Flagge. Nicht Islamismus, aber der Islam bleibt das organisierende Prinzip, es sei denn, es komme zu fundamentalen Reformen in den Gesellschaften des Nahen Ostens – was ich allerdings nicht erwarte.

Nun gibt es Leute, die behaupten, diese Reform werde kommen und sie werde wahrscheinlich von den Muslimen in Europa ausgehen. Ich glaube, der Schweizer Islamgelehrte Tariq Ramadan behauptet solches.
Diese Leute sind schlau, und sie reden doppelzüngig. Geschähe dies wirklich, wäre dies begrüssenswert. Aber ich glaube, das genaue Gegenteil passiert. Die Muslime in Europa haben ihre Lebensart und ihre Traditionen mit sich genommen, und sie versuchen, diese schrittweise den Europäern aufzunötigen.

Wie stark und wie verbreitet ist Ihrer Meinung nach der Traum von einer vereinigten Umma, von einem neuen Kalifat?
Dies ist, was die Islamisten als den Sinn des Islam betrachten. Aber die gewöhnlichen Muslime wollen bloss ihrer täglichen Tätigkeit nachgehen und ein normales Leben führen. Viele haben gar keine Ahnung, dass es diesen Traum gibt. Schauen Sie, die halbe Welt ist analphabetisch. Wenn man die Lese- und Schreibfähigkeit im Nahen Osten, etwa in Ländern wie Jemen, anschaut, dann liegt die sehr tief, und dann fragt man sich: Wie gut kennen diese Leute ihre Religion?

Sie brauchen ja ihre Religion gar nicht gut zu kennen, sie brauchen bloss charismatischen Führern wie Bin Laden oder Achmadinedschad zu folgen.
Bin Laden sagt, was Mohammed sagte: Der Islam ist die wahre, universale Religion, die obsiegen soll. Das Christentum war auch so, aber es hat seinen Messianismus schon vor Jahrhunderten verloren – der Islam nicht. Die Eliten, die Erzieher, die Leute, die in den Moscheen predigen, die denken und schreiben, glauben weiterhin an dieses Ziel. Dies heisst nicht, dass es gewaltsam angestrebt werden muss, aber es muss angestrebt werden.

Jedes Mal, wenn Islamisten einen Anschlag wie in New York, Bali, Madrid oder London ausführen, beeilen sich Politiker – selbst Bush und Blair – zu beteuern, dass diese Gewalttaten das Werk einer kleinen, unrepräsentativen, fanatischen Minderheit seien. Der Islam sei eine friedfertige Religion.
Schauen Sie sich die islamische Geschichte an. Man zeige mir bitte, wo und wann der Islam friedfertig war – dann kann ich mich vielleicht dieser Meinung anschliessen. Der Islam war nie eine Religion des Friedens. Das Wort «Islam» bedeutet nicht Frieden, wie es ab und zu heisst, sondern Unterwerfung. Unterwerfung und Frieden sind nicht dasselbe. Das bedeutet nicht, dass jeder Muslim gewalttätig ist und dass man Leute in die Luft sprengen muss, um sie davon zu überzeugen, sich dem Islam anzuschliessen und den Islam zu verbreiten. Man kann dies durch Überzeugung und Bekehrung tun, durch Heirat, durch die Erzeugung vieler Kinder. Aber einige – eine Minderheit gewiss, aber eine ansehnliche Minderheit – sind gewalttätig. Als 9/11 geschah, applaudierten viele Muslime. Letztlich bleibt der Islam eine Religion, welche die Weltherrschaft anstrebt.

Was tun als Westler oder westlicher Politiker? Wie begegnet man diesem Anspruch auf Weltherrschaft?
Ich will keine politischen Rezepte geben. Damit kriegt man bloss Ärger. Aber gut: Man soll aller Leute Glauben respektieren. Aber Muslime, die nach Europa kommen und in Europa, einer westlichen Gesellschaft, einer liberalen Demokratie, leben, müssen die Spielregeln akzeptieren. Wenn du in Europa lebst, musst du dich integrieren, musst du eine westliche Form des Islam finden, die sich grundsätzlich von dem unterscheidet, was der Islam immer gewesen ist und noch immer ist. Es muss ein Islam sein, der Kirche und Staat trennt, der eine Sache des persönlichen Glaubens ist, der nicht politisch ist.

Sehen Sie Anzeichen dafür, dass dies geschieht?
Nein, ich sehe eher das Gegenteil. Als der britische Minister Jack Straw, der in seinem Wahlkreis viele Muslime hat und den Muslimen gegenüber freundlich gesinnt ist, sich gegen die totale Verschleierung der Frau aussprach, war die Reaktion in der britischen muslimischen Gemeinde äusserst heftig.

Wie im Fall der dänischen Mohammed-Karikaturen sagen die Muslime, auch bei der Verschleierung gehe es darum, dass der Westen ihre Religion und ihre Traditionen respektiere.
Natürlich soll man dem Propheten Mohammed Respekt erweisen. Aber die Muslime müssen akzeptieren, dass nicht alles, was sie als Respektlosigkeit betrachten, Respektlosigkeit ist. 99 Prozent der Muslime, die vor einem Jahr auf die Strasse gingen, randalierten, Sachschaden anrichteten und sogar töteten, hatten die Karikaturen nie gesehen, wussten nicht, wo Dänemark liegt, und hatten keine Ahnung, worum es wirklich ging. Ihnen wurde gesagt, dass der Prophet verleumdet worden sei, und dann wurden sie von ihren Führern auf die Strasse geschickt, um Krawall zu machen. Nehmen Sie Syrien. Dies ist ein Land, wo vor zwanzig Jahren der Vater des gegenwärtigen Präsidenten Zehntausende von muslimischen Aktivisten umbrachte und die Stadt Hama, ihre Hochburg, dem Erdboden gleichmachte. Jetzt wollen Sie mir sagen, dass das weltliche syrische Regime sich auch nur im Entferntesten um diese Karikaturen schert? Das Regime schickte die Leute auf die Strasse, um von den eigenen Problemen abzulenken.

Und um den Westen einzuschüchtern?
Natürlich. Und wir lassen uns einschüchtern.

Und wenn der Papst eine Vorlesung über Vernunft und Glauben hält, muss er sich nachher entschuldigen?
Genau. Wenn Sie die Rede des Papstes ganz lesen – was die wenigsten getan haben -, sehen Sie, dass er westliche christliche Werte viel stärker kritisierte als den Islam. In der Rede gab es einen einzigen Satz, der den Dschihad als unmoralisch bezeichnete. Was ist derDschihad? Der Dschihad ist die gewaltsame Verbreitung der Religion.

Muslime betonen immer wieder, Dschihad bedeute nicht Krieg, sondern eine innere Anstrengung.
Das sagt man uns. Dschihad bedeutet Anstrengung oder Kampf, und eine Interpretation des Wortes ist «Kampf um Selbstverbesserung». Aber dies ist nicht, was Muslime meinen, wenn sie von Dschihad reden. Als das Osmanische Reich die Muslime auf der ganzen Welt aufforderte, in den Dschihad gegen England, Frankreich und Russland zu ziehen, dann hiess dies nicht, sie sollten in ihrem Kämmerchen den Koran studieren, sondern, dass sie kämpfen sollten. Als zum Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan aufgerufen wurde, dann bedeutete dies: Geht und tötet sie! Wenn Apologeten behaupten, der Dschihad sei nicht Krieg, dann ist dies Unsinn, der dazu dient, den Westen zu täuschen.

Wieso üben Ideen wie der Dschihad auf junge, in Grossbritannien aufgewachsene Muslime eine derartige Anziehungskraft aus?
Weil sie nicht genügend assimiliert worden sind. Hier liegt das Problem. Wären sie genügend assimiliert worden und hätte sich der europäische Islam gewandelt und reformiert, würden diese jungen Leute nicht über die Umma nachdenken, und es käme ihnen nie in den Sinn, Ungläubigen den Islam aufzunötigen. Vielmehr würden sie ihren Glauben privat praktizieren, beten und gute Taten vollbringen.

Wenn Bernard Lewis sagt, am Ende des Jahrhunderts werde Europa wahrscheinlich muslimisch sein, hat er recht, oder liegt er völlig falsch?
Ich glaube nicht, dass er völlig falsch liegt. Natürlich hängt es davon, was Europa macht. Aber wenn die Europäer nicht aufwachen, wird dies passieren. Nicht unbedingt durch Gewalt, sondern durch Einwanderung, Bekehrung und gelegentlich auch Einschüchterung. Heute nehmen die Muslime die Karikaturen zum Anlass, morgen werden es Fernsehsendungen, Filme oder Kleiderordnungen sein, an denen sie Anstoss nehmen. Als Gaza unter israelischer Besatzung war, existierte dort ein weltlicher Freiraum – ein nicht allzu grosser, weil alle diese Gesellschaften religiös sind. Aber als Israel abzog und Arafat kam, der der Hamas freien Lauf liess, begannen sie Kinos und Videoläden niederzubrennen.

Geben wir im Westen zu leicht nach, wenn die Muslime etwas fordern? Herrscht so etwas wie ein Geist des Appeasement?
Ja, es gibt einen Geist des Appeasement. Aber man kann nur zum Teil von Beschwichtigung reden. Es handelt sich auch darum, dass die Leute in Europa sich nicht bewusst sind, welcher Art von Bedrohung sie gegenüberstehen. Wenn man ihnen weismacht, der Dschihad sei etwas Friedliches, dann glauben sie es. Sie wissen nicht, welcher wirklichen Herausforderung sie begegnen müssen, und viele wollen es nicht wissen. Wenn man weiss, dass man bedroht ist, muss man etwas unternehmen. So ziehen es die Leute vor, in Unwissenheit zu leben und nichts zu tun.

Vogel-Strauss-Politik?
Ja. Bis die Sache früher oder später explodiert.

Es gibt ernsthafte Politiker, die das Palästinaproblem als zentrales Anliegen der Muslime sehen und die behaupten, eine gerechte Zweistaatenlösung würde den Islamisten den Wind aus den Segeln nehmen.
Dies ist Unsinn. Die Israelis waren schon vor siebzig Jahren für eine Zweistaatenlösung. Die Araber wollten dies nicht und zogen gegen Israel in den Krieg. Sie verloren den Krieg. Dann verloren sie weitere Kriege. 1967 besetzte Israel die Westbank und Gaza. Schrittweise kam es zum Oslo-Abkommen von 1993 mit einer vorgesehenen Zweistaatenlösung. Barak bot Arafat in Camp David (2000) einen Staat an – vielleicht nicht 100 Prozent der Westbank, aber man hätte ja weiter verhandeln können. Die Hamas will keine Zweistaatenlösung. Die Fatah spricht von einer Zweistaatenlösung auf Englisch und von einer Einstaatenlösung auf Arabisch, was die Vernichtung Israels bedeuten würde. Ich selber bin seit Jahrzehnten für die Zweistaatenlösung, und auch die meisten Israelis würden sie mit Freude akzeptieren, wenn die Palästinenser einverstanden wären. Aber sie wird das Problem nicht lösen.

Wieso gewinnen die Muslime den Propagandakrieg in Europa? Wieso nahm im Libanonkonflikt eine Mehrheit der Europäer gegen Israel Partei, und wieso glaubt eine Mehrheit der Europäer, Israel unterdrücke die Palästinenser?
Ganz einfach: weil Israel ein jüdischer Staat ist. Machen wir uns nichts vor! Es handelt sich hier um eine Fortsetzung der alten Obsession mit den Juden. Niemand kümmert sich auch nur einen Deut um die Palästinenser. Die Araber haben sich nie um die Palästinenser gekümmert.

Immerhin ist verständlich, wenn sich die europäische Öffentlichkeit empörte, als im Libanonkrieg zahlreiche Frauen und Kinder durch israelische Bomben ums Leben kamen.
Es war Krieg, und etwa tausend Menschen starben. Dies ist im Vergleich zu andern Kriegen keine hohe Opferzahl.

Aber es waren hauptsächlich Zivilisten, die umkamen.
Natürlich waren es hauptsächlich Zivilisten, weil die Hisbollah aus Zivilisten besteht. Es ist keine Armee, es sind Terroristen, die sich in der Zivilbevölkerung verstecken. Ungefähr sechshundert bis siebenhundert Hisbollah-Kämpfer oder wie immer Sie sie nennen wollen, wurden getötet.

Wieso denn war die allgemeine Auffassung in Europa, dass Israels Antwort auf die Provokationen der Hisbollah disproportioniert sei?
Weil die Europäer den Juden gegenüber unfair sind. Sie sind immer unfair gewesen. Seit der Zeit der Römer haben sie Juden umgebracht. Was ist neu daran? Kurz nach dem Ende des Holocaust wurden in Polen bereits wieder Juden in Pogromen getötet. Wer kümmert sich um das Los der Palästinenser? Den Palästinensern geht es vergleichsweise zehnmal besser als dem Rest der Welt. Und überhaupt endete die israelische Besatzung 1996.

Israel ist immer wieder militärisch in die Territorien eingedrungen. Man erinnert sich an die Aktion in Jenin, die von vielen Medien als Massaker beschrieben wurde.
Was für ein Massaker? Es gab überhaupt kein Massaker. Im Verlaufe von heftigen Kämpfen wurden zwanzig Zivilisten getötet. Die Amerikaner oder Briten töten bei ihren Aktionen im Irak Tausende von Leuten an einem Tag, wie in Falludscha. König Hussein von Jordanien tötete 10000 Palästinenser in einer Woche. In der Intifada von 1987 bis 1990 wurden mehr Palästinenser von Palästinensern getötet als von Israel. Auch heute noch bringen sie sich gegenseitig um. Und wen schert es? Die Israelis geben sich jede Mühe, um unschuldige Opfer zu vermeiden. Die Israelis töten ein Minimum, während die Palästinenser das Maximum von Juden töten, das möglich ist. Wenn sie könnten, würden sie alle Juden umbringen. Trotzdem verurteilt die Welt die Israelis. Wieso? Weil die Juden die Unterdrücker, die Blutsauger sind.

Efraim Karsh: «Wir lassen uns einschüchtern»

Interview von Hanspeter Born mit Efraim Karsh
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