SPME Germany: Protest gegen den Artikel in der Wochenendausgabe vom 12./13. Dezember 2009, S. 16 von Tony Judt mit dem Titel „Ethnische Geiselhaft”

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AKADEMIKER FÜR FRIEDEN IM NAHEN OSTEN – SEKTION DEUTSCHLAND
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Protest gegen den Artikel in der Wochenendausgabe vom 12./13. Dezember 2009, S. 16 von Tony Judt mit dem Titel „Ethnische Geiselhaft“

Berlin, den 15.12.2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

in Ihrer letzten Wochenendausgabe haben Sie dem bekannten, englischen Israelkritiker Tony Judt durch einen langen Artikel eine Plattform für die Verbreitung seiner provokanten, und in dieser neuen Form unserer Ansicht nach eindeutig antisemitischen und somit unerträglichen Thesen gegeben. Dieser Artikel erschien unkommentiert und wurde durch Hervorhebungen, wie die Überschrift „Juden in Europa und in den USA sollten sich von Israel distanzieren“ und die Nennung des Herrn Judt als „Historiker und Leiter des Remarque-Institutes der New-York University“ noch bestätigend redaktionell hervorgehoben.

Der Vorstand der deutschen Sektion der internationalen Wissenschaftlervereinigung Scholars for Peace in the Middle East (SPME), der weltweit über 20 Tausend Mitglieder angehören, protestiert aufs Schärfste gegen diesen Artikel in Ihrer großen, überregionalen Zeitung.

Einseitig formulierte Kritik an der aktuellen Politik Israels sind wir leider in Ihrer Zeitung gewohnt, dieser Artikel, der als Kernaussage jedoch die historische Existenz des jüdischen Volkes in Zweifel stellt, und somit indirekt auch die Berechtigung des Stattes Israel anzweifelt, geht jedoch einen großen, schlimmen Schritt weiter. Der Artikel ist angefüllt mit unhistorischen, einseitigen und gar altbewährten antisemitischen Redefiguren, die sich in dieser kurzen Stellungnahme nicht alle auflisten lassen. Wir können uns nicht erklären, wie ein derartiger Inhalt an Ihrer redaktionellen Auswahl vorbei an ein großes Leserpublikum gelangen konnte und stellen hier einige Inhalte von Herrn Judt noch einmal kurz zusammen, da wir davon ausgehen, dass sie seitens Ihrer Redaktion nicht gelesen worden sind. Die Tatsache, dass Herr Judt selbst jüdischer Abstammung ist, gibt ihm übrigens keinesfalls einen Freibrief, überzogene Israelkritik und antisemitische Thesen, gerade in einer deutschen Zeitung zu veröffentlichen, ganz im Gegenteil hat ein deutsches Gericht kürzlich festgestellt, dass es sehr wohl jüdischen Antisemitismus gibt.

Kern dieses Artikels, den bereits Historiker von SPME ausführlich analysiert und widerlegt haben, ist der, dass Herr Judt die Existenz des jüdischen Volkes schlichtweg leugnet. Er verlangt in seinem Artikel zu glauben, dass das Judentum eine »herbeigedichtete Gemeinschaft unter vielen« ist, die sich ihre »Selbstdefinitionen in Reaktion auf ihre Verfolger entwickelt« hat. Später schreibt er noch: »Wenn wir uns darauf einigen können, dass es das ›Jüdische‹ nicht gibt…« Da es nach Herrn Judt „das Judentum“ also gar nicht gibt, kommt er in diesem Artikel auch sehr schnell wieder zu dem Thema, mit dem er schon hinlänglich (negativ) bekannt geworden ist, der Beschreibung einer weltweiten »Israel-Lobby«. Auch hier bedient er klar antisemitische Stereotypen einer weltweiten Verschwörung, die ansonsten nur in rechtsradikalen Kreisen verbreitet sind. Die fortbestehende Existenz des jüdischen Volkes, die historisch, aber inzwischen auch z.B. durch die moderne Molekularbiologie eindeutig belegt ist, zweifelt er schließlich durch das Einstreuen der Begriffe „Mischehen, Bekehrungen und Assimilationen“ an. Er schreibt »Der Ethno-Mythos einer direkten jüdischen Abstammungslinie war für die Legitimität des jüdischen Staates und somit für die institutionalisierte Vorzugsbehandlung der Juden gegenüber den Nicht-Juden essentiell.« Unserer Ansicht nach ist die Verleugnung und bewusste Verdrehung historischer Tatsachen nicht nur grob unwissenschaftlich, sondern für das Existenzrecht Israels und mögliche Lösungen im Nahen Osten fatal.

Ein Beharren auf der Berechtigung der Existenz des jüdischen Staates in Israel geißelt Herr Judt hingegen als »selbstgefälliges Überlegenheitsdenken« der Juden. Derartige Begrifflichkeiten sind uns in „umgekehrter Art“ nur aus finsterer rechtsextremer Argumentationsweise bekannt und Herr Judt macht hiermit die Juden wieder selbst für den Antisemitismus verantwortlich, eine ebenfalls leider wohl bekannte Rhetorik von Antisemiten. In dieselbe Richtung geht auch die Passage, »dass Antisemiten im Fernsehen sehen, wie Israel im Gazastreifen Palästinenser bombardiert… «: Natürlich, wie so oft in den deutschen Medien, fehlt in diesem Zusammenhang jedes Wort zu den Tausenden Raketen, die aus Gaza auf Israel seit dem Rückzug abgeschossen wurden, und die Grausamkeiten eines Krieges werden hier als „Rechtfertigung“ für den Judenhass angeführt. Die Juden sind somit also wieder selbst schuld am weltweiten Antisemitismus.

Nur folgerichtig in der Argumentation von Herrn Judt kommt er jetzt auch auf den iranischen Präsidenten Ahmadinedjad zu sprechen und gibt ihm eine Recht­fertigung für dessen Leugnung des Holocaust. Herr Judt schreibt »Der iranische Präsident Ahmadinedjad macht sich einen Spaß daraus, den Holocaust zu leugnen und stellt so die israelische Propaganda auf den Kopf. Wenn Israels beste Verteidigung Auschwitz ist, dann braucht man nur noch zu sagen, es habe den Holocaust nie gegeben… «. Aus unserer Sicht ist Herr Ahmadinedjad nicht nur als Holocaustleugner, sondern besonders auch als Politiker, der Israels Existenzrecht anzweifelt und eindeutig momentan ein Atomwaffenprogramm aufbaut, einer der gefährlichsten Politiker weltweit. Gerade momentan, in der er der Welt gerade, ohne dass es viel internationalen Protest gab, mitteilte, dass er 10 weitere Aufbereitungsanlagen baut, die natürlich nicht für eine zivile Nutzung vorgesehen oder erforderlich sind, ist es unerträglich, hier in Ihrer Zeitung auch noch Rechtfertigungen für die antisemitischen Parolen dieser Person zu lesen. Gerade Deutschland hat eine große Verantwortung, die Gefahr, die durch Herrn Ahmadinedjad für Israel besteht, hervorzuheben (und ihr z.B. durch eine Reduktion der florierenden deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen zu begegnen), und nicht durch die Veröffentlichung derartiger Artikel seine Ansichten noch zu rechtfertigen. Herr Judt schlägt auch vor, dass Israel doch in Kanada hätte gegründet werden sollen, und er weiß natürlich, dass Ahmadinedjad kürzlich einen ganz ähnlichen Vorschlag mit „Kanada oder Alaska“ gemacht hat. Herr Judt liefert hier also den „historisierenden“ Unterbau für Ahmadinedjads Ansichten, und seine Pläne, Israel von der Landkarte zu tilgen, dies in einer deutschen großen Zeitung zu lesen, ist schwer erträglich.

Völlig unerträglich sind dann die „Visionen“ des Herrn Judt, dass es in Israel und Palästina bald „ethnische Säuberungen (natürlich durch die Israelis) geben wird (da der jüdische Staat anders nicht zu erhalten sei), und die Aufforderung an die europäischen und amerikanischen Juden, »sich von Israel zu distanzieren«. Dies erinnert uns leider fatal an die kürzlich erfolgten akademischen Boykottaufrufe gegen Israel, die zur Gründung von SPME führten, und die wir aufs Schärfste verurteilen. Herr Judt möchte also einen globalen Boykott Israels, besonders durch „die internationalen Juden“ (die es nach seiner historischen Sicht ja ohnehin gar nicht gibt – dies ist dann wahrscheinlich die „Israel-Lobby“, s.o.) und zieht als „Erfolgsmodell“ einen angeblichen Erfolg beim Irlandkonflikt durch einen ähnlichen Boykottaufruf heran, der absurd erscheint. Besonders an die USA, dem Land in dem Herr Judt momentan lehrt, wendet er sich: »Washington solle erkennen, wie sinnlos es ist, die US-Außenpolitik und das eigene Prestige an den Wahn eines kleinen nahöstlichen Ethnostaates zu binden«. Herr Judt weiß genau, dass Israel von den umliegenden Nationen seit der Staatsgründung permanent mit Vernichtungskriegen überzogen wurde, und dass seine Feinde keinesfalls sein Existenzrecht anerkennen werden (wie gerade wieder offiziell von Hamas und anderen bekundet). Er weiß somit auch, dass es daher momentan noch von einem starken militärischen Partner wie den USA abhängig ist. Daher kann und muss man diesen Aufruf, diesen „kleinen nahöstlichen Ethnostaat“ fallen zu lassen, nur mit dem bewussten Hinnehmen einer Vernichtung Israels gleich setzen, was in dieser Form wirklich ungeheuerlich ist.

Zusammengefasst protestieren wir gegen diesen aggressiven antiisraelisch-antijüdischen Artikel, der ohne Kommentar in ihrer Zeitung – übrigens ausgerechnet zum jüdischen Chanukka-Fest und vor den Toren des »Festes der Liebe« veröffentlicht wurde. Dass man hier den Juden weltweit ihr eigenes jahrtausendealtes Selbstbewusstsein bestreitet und sie gar schuldig für die Angriffe der Antisemiten sein lässt, hat eine Qualität, die nicht mehr nur antiisraelisch, sondern eindeutig antisemitisch ist. Dass schließlich auch noch der Schulterschluss mit einem der gefährlichsten Politiker der Welt, unter dem momentan besonders auch das eigene iranische Volk schwer leidet, hergestellt wird, ist infam und eine Schande für die »Süddeutsche Zeitung«, wogegen wir mit aller Macht protestieren.

In Erwartung einer Erklärung verbleiben wir mit freundlichen Grüßen,

Der Vorstand von SPME-Germany e.V.

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