Ich will keine „Zirkumfessionen“ schreiben,[1] aber ich muss bekennen, dass ich diese Arbeit nicht sine ira et studio, sondern im Affekt, um nicht zu sagen, mit „Wut im Bauch” verfasst habe. Es ist – von mir aus gesehen – gerade einmal eine Generation her, da haben Deutsche geschätzte eineinhalb Millionen jüdischer Kinder umgebracht. Mein Vater begleitete während der sogenannten „Ghettosperre“ in Lodz (5.-12. 9. 1942) seine beiden kleinen Nichten zu einer Sammelstelle, wo sie wie Müllsäcke auf große Lastwagen geworfen und ins Todeslager Kulmhof abtransportiert wurden. Nun ereifern sich viele Deutsche über die jüdischen Eltern, die die Körper und die Rechte ihre Kinder beschneiden. Eine Mehrheit von ihnen spricht sich nach einer Emnid-Umfrage für ein Beschneidungsverbot aus. „Auschwitzkeule!” wird man dazwischenrufen, nur blinder Affekt vermag einen Zusammenhang zwischen dem deutschen Kindermord gestern und dem deutschen Kinderschutz heute herzustellen. Ist es nicht viel eher ein begrüßenswerter Gesinnungswandel, wenn eine Mehrheit der Deutschen mit den armen jüdischen Knaben fühlt und sie endlich vor den archaischen Bräuchen ihrer Eltern in Schutz nehmen will? Wir verdächtigen die Wohlgesinnten nicht pauschal des Antisemitismus, aber wer die Geschichte des Antisemitismus kennt, der erkennt in der Beschneidungsdebatte ein wiederkehrendes Muster. Erstens nimmt die Judenfeindschaft bevorzugt die Symbole des Jüdischseins ins Visier, bevorzugt die Beschneidung, die seit der Zeit der alten Griechen und Römer immer wieder unter diversen Vorwänden verboten wurde. Zweitens verbirgt sich in der Kritik einzelner jüdischer Sitten und Bräuche meistens ein allgemeineres Vorurteil, hier etwa das folgende: Die Juden sind grausam, sie schächten die Tiere, beschneiden die Kinder, gar nicht erst zu sprechen von den Palästinensern und Jesus, den sie auch beschnitten haben. Drittens trifft diese Kritik früher oder später alle Juden, egal wie sie es persönlich mit der Religion halten. Als Mittel gegen die Amnesie in der hundertersten Beschneidungsdebatte, blicken wir – von mir aus gesehen – eine Generation zurück.
Fälschungssicherer Ausweis
„Ich hatte mir für die Mittagspause ein kühles Plätzchen ausgesucht und löffelte meine Suppe. Neben mir hatten sich einige Polen niedergelassen (…): ‚Wie geht’s denn immer so?’ Aber noch ehe ich Gelegenheit fand, auf dieses unerwartete Interesse an mein Wohlbefinden zu antworten, sprangen die vier auf, packten mich und zerrten mich gewaltsam auf einen der Tische, die überall herumstanden. ‚Jetzt wollen wir’s sehen‘grinsten sie mich an. (…) ‚Wir wollen sehen, wie groß er ist’ (…)für mich der Auftakt zum Ende. Meine Panik steigerte sich (…). Meine Situation erinnerte an einen Schmetterling, der lebendig auf ein Brett gespießt wird. (…). Sie (…) zogen und zerrten an meinen Hosen wie Besessene, und ich konnte den schwarzen Todesengel neben ihnen sehen (…). Schreiend und mich windend, fühlte ich, wie meine Hosen nachgaben und nach unten rutschten. (…). Aber als ihre Bemühungen gerade Erfolg hatten (…) kam mein Meister angesaust. (…) Nichts Geringeres als ein Wunder war geschehen! (…) Wäre der Meister nur eine Sekunde später aufgetaucht (…) mein Judentum wäre entdeckt gewesen, und sie hätten (…) mich wahrscheinlich totgeschlagen.”[2]
Diese alptraumhafte Szene steht in den Erinnerungen von Lipman Sznaijder. In München kannte jeder den Inhaber des Fachgeschäfts FOTO SCHNEIDER, oder vielmehr niemand kannte ihn wirklich, bis er 1991 seine Erinnerungen im Eigenverlag veröffentlichte. In diesem Buch erzählt er in einem pikaresken Tonfall, wie er sich während des Krieges in Polen als katholische Vollwaise durchgeschlagen hat, in ständiger Angst als Jude identifiziert zu werden. Er landete nicht nur einmal auf dem „Beschneidungstisch”, auch seine polnischen Freunde wollten es genau wissen und zerrten ihn diesmal auf einen antiken Esstisch: „Jetzt wollen wir mal sehen, ob du katholisch oder ein Jude bist“.[3] Die meisten Geschichten drehen sich um die spannende Frage, ob es „Lipele“ noch einmal gelingen wird, sein „schreckliches Geheimnis“[4] zu hüten: in der Dusche, im Bad, beim Arzt, bei der Musterung, in der Liebe, im Traum.[5] Beschneidung, das war für ihn in dieser Zeit ein Synonym für „Todesurteil“.[6] Dabei hat es Sznaijder meist nur vor den lieben Polen Angst, aber auch die bösen Deutschen bedienten sich dieser „erkenntnisdienstlichen” Methode.
Am 10. September 1943 rückte das Sonderkommando Alois Brunner in der italienischen Besatzungszone von Nizza und Umgebung ein, wo die Juden bis dahin Schutz genossen hatten. Ein Dokument der jüdischen Widerstandsbewegung schildert die beispiellosen Razzien:
„Ohne Zeit zu verlieren, begannen die Deutschen (…) mit der Judenjagd. (…)Die Verfolgungen setzten in einer Form und in einem Ausmaß ein, die bislang unbekannt waren. Es wurden einige relativ neue Methoden angewendet:
a) Die Deutschen gingen grundsätzlich davon aus, dass die Beschneidung dem Faktum, Jude zu sein, gleichkomme. Damit wurden alle Papiere wertlos;
b) Kleinwagen mit ‚Physiognomikern’ fuhren umher, die alle Leute mit jüdischem Aussehen verhafteten und sie im Fall des Irrtums wieder freiließen;
c) Ständige Razzien in Hotels und möblierten Zimmernusw.”[7]
Kurz und gut, in Nizza mussten alle irgendwie verdächtigen Männer in Hotels, in Bars, in überfüllten Zügen, mitten auf der Straße ihre Hosen runterlassen. Wer mit einem beschnittenen Penis ertappt wurde, kam ins Hotel Excelsior, wo Alois Brunner, der immer noch unbehelligt in Damaskus leben soll, seine Folterkammer eingerichtet hatte, und wurde so lange verhört, bis er die Verstecke seiner Angehörigen preisgab. Mit diesen Methoden haben die Deutschen ca. 1800 Juden in Nizza und Umgebung erwischt.[8] Vorhautrestauratoren hatten in Nizza und Umgebung vermutlich Hochkonjunktur. Da sieht man, wohin die Beschneidung im Extremfall führt – nach Auschwitz! So gesehen ist die Beschneidung weit mehr als eine leichte „Körperverletzung“, sie ist wirklich lebensgefährlich. Das stellt das Kölner Beschneidungsurteil in ein anderes Licht. Nur zu wahr ist die zusätzliche Begründung: „Zudem wird der Körper des Kindes durch Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider“. Endlich, so könnte man aufatmen, stellen deutsche Richter und Strafrechtler dem männlichen Juden frei, diesen unauslöschlichen menschlichen Makel, diesen fälschungssicheren Ausweis, abzulehnen und ermöglichen ihm unerkannt durch Beschneidungskontrollen zu schlüpfen. Sollten Juden das Kölner Urteil nicht mit Erleichterung aufnehmen?
Beschneidungsmärtyrer
Die Betroffenen selber gaben allerdings nicht der Beschneidung die Schuld an ihrem Unglück. Es ist jedenfalls nicht bekannt, dass Lipman Sznaider und die anderen Überlebenden ihre Kinder und Enkel unbeschnitten ließen, Beschneidungsfeiern waren in der Münchner Jüdischen Nachkriegsgemeinde stets Freudenfeste. Ja, sogar während der Schoa, wollten jüdische Eltern nicht auf die Beschneidung verzichten. Aus dem Warschauer Ghetto wird folgende bezeichnende Geschichte überliefert. Im Winter 1942/43 wurde der berühmte Rabbi Kalonymos Kalman Schapira, der auch ein erfahrener Mohel war, zu einer Beschneidung gerufen. Die Mutter empfing ihn, den Chirurgen und die, zu diesem Akt erforderlichen, zehn erwachsenen jüdischen Männer, mit Tränen. Ihr Mann war kürzlich ins KZ verschleppt worden. Zuvor hatte sie sich überlegt ihr Kind unbeschnitten zu lassen und einer christlichen Familie anzuvertrauen, nun aber wollte sie mit der Beschneidung ihres Sohnes das Leben ihres Mannes retten, nach der Logik: Willst du, dass Gott etwas für dich tut, dann tue etwas für Gott![9] Nach eben diesem Motto hatte Rabbi Kalman Schapira am 29. März 1941 über Exodus 12, 6 gepredigt: „Redet zur ganzen Gemeinde Israels also: Am zehnten dieses Monats nehme sich ein Jeglicher von ihnen ein Lamm (…)”. Die Erfüllung der beiden zusammenhängenden Gebote des Osterlamms und der Beschneidung (Ex 12, 48) waren, so erklärt der Rabbi nach der Tradition, Bedingungen der Erlösung des Volkes aus der Sklaverei. Auf die bitteren Klagen des Volkes und seines Führers: Warum? Wie lange noch? (Ex 5, 22 u. ö) antwortete Gott mit einem festen Termin und den beiden Geboten. Durch die Gebote erhielt das Volk die Möglichkeit, sich erkennbar in den Dienst Gottes zu stellen. Anders formuliert, mit den beiden blutigen Handlungen befreiten sich die Sklaven selber aus der Dienstherrschaft Pharaos und bildeten die Blutsbruderschaft der auf Rettung und Befreiung Harrenden.[10] Diese Antwort, das versteht sich bei dieser Predigt von selbst, war nicht nur für die israelitischen Sklaven in Ägypten, sondern auch für die jüdischen Sklaven im besetzten Polen gedacht. Die Botschaft von Ostern und Beschneidung war auch dort: Die Zeit ist nahe! Macht euch bereit! (Ex 14, 15). Wir können hier das „Heilige Feuer” (Esch Kodesch) des Oberrabbiners von Piaseczno nicht genügend würdigen, klar ist jedenfalls, dass er die Beschneidung nicht für einen Teil der End-, sondern der Erlösung hielt. Eine in anderer Hinsicht bezeichnende Geschichte erzählte Rabbiner Israel Spira von Bluschow jedes Mal, wenn er als Pate (Sandak) zu einer Beschneidung geladen wurde. Die Geschichte trug sich im „Durchgangslager“ Lemberg-Janowska zu, wo absolut unbeschreibliche Zustände herrschten. Während einer so genannten „Kinderaktion” – heute denkt man da an: „Aktion Sorgenkind“, damals meinte der Euphemismus den Massenmord an jüdischen Kindern – stand plötzlich eine Frau mit einem Bündel neben ihm. Vom deutschen Wachmann, der hinzutrat, verlangte sie gebieterisch ein Taschenmesser und erhielt es auch. Sie wickelte das Bündel auf, indem ein schlafendes Neugeborenes lag, klappte das Messer auf und beschnitt den Säugling mit sicherer Hand. Dann sprach sie den Segen zur Beschneidung: „Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns die Beschneidung befohlen hast.’ Dann richtete sie sich auf, erhob ihre Augen gen Himmel und sagt: ‚Herr der Welt, du hast mir ein gesundes Kind gegeben, ich gebe dir einen gesunden koscheren Juden zurück’. Sie schritt auf den Deutschen zu, gab ihm sein blutverschmiertes Messer wieder und überreichte ihm ihr Kind.“[11] Die Geschichte zeigt, dass jüdische Mütter auch mit dem sicheren Tod ihrer Kinder vor Augen auf die Beschneidung bestanden. Eine ähnliche Geschichte aus dem Ghetto Kowno wird von Eliezer Berkovits in seinem Buch Mit Gott in der Hölle wiedergegeben. Dort platzte einmal die Gestapo in eine Beschneidungsfeier hinein. Die Mutter drängt den Mohel: „Beeilung! Seht ihr nicht, sie sind gekommen, um uns zu töten! Lassen sie wenigstens mein Kind als Juden sterben.“[12] Berkowitz erinnert diese Geschichte an einen Midrasch über Israel in Ägypten. Nach der Bibel hatte der Pharao seinem Volk befohlen: „jeglichen neugeborenen (israelitischen)Sohn in den Fluss zu werfen” (Ex 1, 22). Die Israeliten, so erzählt der Midrasch, beschnitten zuvor noch ihre Söhne: Die Ägypter waren verwundert: „Warum beschneidet ihr eure Söhne? Werden sie nicht in einer Stunde in den Nil geworfen. Da erwiderten die Israeliten: An uns liegt es, dass sie beschnitten werden, danach liegt es an euch, was ihr mit ihnen macht“.[13] Berkowitz schließt: Jene Mutter aus Kowno kannte diesen Midrasch wohl nicht, „aber sie handelte instinktiv nach der uralten jüdischen Bundestreue“. Die Handlungen der Mütter an ihren Kindern, denen man damals leider nicht die Zeit bis zur Volljährigkeit lassen wollte, erinnert an die Nottaufe. Durch diesen Bekenntnisakt gaben die Mütter dem Tod ihrer Kinder einen höheren, religiösen Sinn: sie sollten im und für den Gottesbund sterben.
Dennoch fielen die Beschneidungsmärtyrer während der Shoa im Vergleich etwa zu den Bartmärtyrern kaum ins Gewicht.[14] Erstens gab es kaum noch Beschneidungskandidaten. Die jüdische Geburtenrate fiel im deutschen Ghetto anders als im ägyptischen Sklavenhaus rasch auf 0%.[15] Zweitens haben die Deutschen kein generelles Beschneidungsverbot erlassen, so wie sie ein Schächtverbot, Bartverbote, Betverbote, Lernverbote usw. erließen.[16] Man kann sich auch gut vorstellen warum: schließlich wollten sie die Juden und nicht die Judenmale auslöschen, die Selbststigmatisierung der Juden kam ihrer Politik der Abstempelung und Brandmarkung womöglich noch entgegen. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Ritualien, wie die Torarollen, die Gebetsriemen und Gebetsmäntel wurde – so weit wir sehen – die Beschneidung nicht zum Anlass öffentlicher Schändungen und Schmähungen. Mila und Schoa – eine Fehlanzeige? Nicht wenn man auf die Vorgeschichte blickt.
Vorhautemanzipation
In der Beschneidungsdebatte im Emanzipationszeitalter ging es gerade nicht um die Diskriminierung der Juden, sondern um ihre Integration. Bereits in der Antike galt die Beschneidung als erstrangiges Integrationshindernis. Das 1. Makkabäerbuch berichtet, dass sich jüdische Sportler – die splinternackt auftreten mussten – einer Vorhautrestauration unterzogen (IMak 1, 14-15), ein solcher wiederhergestellter ganzer Mann wurde epispastikós, „angezogener” (σπάω, ziehen) genannt. Widerspenstige Traditionalisten wurden bisweilen mit Gewalt zur Assimilation gezwungen. Das 1. Makkabäerbuch berichtet auch, wie Hellenisten vor dem Makkabäerkrieg jüdische Familien behandelten, die bei der Beschneidung ertappt wurden. Der beschnittene Säugling wurde an den Hals der Mutter aufgehängt, dann wurde die ganze Familie zusammen mitsamt dem Beschneider hingerichtet (IMak 1, 60 f.). Hier erkennt man zum ersten Mal mit welcher Barbarei die Maßnahmen gegen die Barbarei der Beschneidung durchgesetzt wurden. Die Beschneidungsmärtyrer der Makkabäerzeit, trugen wie die Schweinefleischmärtyrer dazu bei, dass das Beschneidungsgebot und das Schweinfleischverbot zu differentiae specificae des Judentums wurden.
Im 17. Jhd. erklärte der „nichtjüdische Jude” Spinoza[17] die unerklärliche Perennität Israels unter den Völkern mit der Beschneidung:[18] „Das Zeichen der Beschneidung halte ich dabei für so bedeutungsvoll, daß ich überzeugt bin, dies allein werde das Volk für immer erhalten. Ja, wenn die Grundsätze ihrer Religion ihren Sinn nicht verweichlichen (effoeminarent), so möchte ich ohne weiteres glauben, daß sie einmal bei gegebener Gelegenheit (…), ihr Reich wieder aufrichten (…).”[19] Zionisten feierten Spinoza wegen dieser Sätze als Propheten. Doch Spinoza wünschte nichts weniger als eine Wiedergeburt des Judenstaates, er suchte nur nach einer religionssoziologischen Ursache für das Scheitern der Assimilation der Juden in der Diaspora und er fand sie ihm jüdischen Penis, dem er in dieser Hinsicht eine ähnliche Potenz zusprach, wie dem Chinesenzopf![20] Seine Wortwahl verrät en passant sein Ressentiment, „effiminieren“[21] spielt womöglich auf die polemische Verwechslung von Zirkumzision und Kastration, von be- und abschneiden an. Jedenfalls schlossen sich die Vorkämpfer der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden im 18. Jh. der Ansicht Spinozas an. Kant z. B. meinte gesprächsweise, solange „die Juden, Juden bleiben, sich beschneiden lassen“, werde es mit der Gleichberechtigung nichts. Fichte drückte sich nur gröber aus, er verlangte die Beschneidung als Voraussetzung der Gleichberechtigung, nämlich die Beschneidung der „jüdischen Köpfe” mit ihren eingefleischten jüdischen Ideen.[22] (Die Jakobiner machten es während der Terrorherrschaft buchstäblich wahr: auf Beschneidung stand die Guillotine!)
Die radikale jüdische Reform beugte sich dem Assimilationsdruck, sie erklärte die Beschneidung zum religiösen Adiaphoron, aber auch die mitteleuropäische jüdische Orthodoxie passte in der Meziza-Debatte den Ritus den geltenden hygienischen Standards an. Doch mit der Annäherung wuchs nach der Marquardschen Restübelthese auch die Abstoßung. Die fehlende Vorhaut, häufig das letzte verbliebene und obendrein in der Unterhose versteckte Merkmal des männlichen jüdischen Aliens, wurde zu Obsession und mit allen möglichen Phantasmen und Phobien besetzt. Sander L. Gilman und im Anschluss, Klaus Hödl haben genüsslich die irrwitzigen Interpretationen der alten jüdischen Inschrift im Körper ausgebreitet.[23] Die jüdischen Apologeten betrachteten die Beschneidung als prophylaktische Verminderung des Gesundheitsrisikos bei Geschlechtskrankheiten, die antijüdische Polemik als Vermehrung des Gesundheitsrisikos, ja, als Krankheits- und Seuchenherd, der für die Verbreitung der Syphilis verantwortlich zeichnet. Letztere Behauptung musste mit der Tatsache fertig werden, dass beschnittene Juden nach allen Statistiken erheblich geringere Infektionsraten aufwiesen. „Tut nichts!“, gerade die Beschneidung ist doch der Beweis für die besondere Anfälligkeit der Juden – sie haben es eben nötig! So wie Apion in der Antike die biblischen Aussatzgesetze als Beweis für die besondere Anfälligkeit der Juden für diese Krankheit anführte. Damit sind wir aber schon bei Hitler, der die Bekämpfung gegen „Versyphilitisierung des Volkeskörpers” durch die „Judenkrankheit” zum Staatsziel erhob.[24] Mit den von ihm gebrauchten Bildern für den „hebräischen Volksverderber“[25]: „Völkerparasit“, „Bazillus“,[26] „Ungeziefer“,[27] legte er schon in Mein Kampf nahe, „was man” – im 1. Weltkrieg – „hätte tun müssen“: „vertilgen“,[28] „unter Giftgas halten“,[29] und schließt, den 2. Weltkrieg vorwegnehmend, „dann wäre das Millionenopfer nicht umsonst gewesen“.[30]
Ich will mich hier nicht einer Figur bedienen, die Leo Strauss, einmal eine reductio ad hitlerum genannt hat, aber der Zeitraffer, der den Übergang von der wohlgemeinten Auslöschung des Zeichens des Jüdischseins zur Auslöschung der Juden zeigt, gibt doch sehr zu denken. Ich will die beunruhigende Frage, die die Geschichte des deutschen Judentums aufwirft, noch etwas anders formulieren: Warum wurde ausgerechnet das assimilationswilligste Judentum zum Gegenstand des schlimmsten Vernichtungsantisemitismus. Die Moral aus der Geschichte: eine Vorhaut schützt vor Verfolgung nicht!
Erweiterte Fassung des Beitrages für das Tagesseminar der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg: Beschneidung – Das Zeichen des Bundes in der Kritik am Sonntag, 22. Juli 2012.
Prof. Dr. Dr. h.c. Daniel Krochmalnik ist Lehrstuhlinhaber für Jüdische Religionslehre, – pädagogik und –didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.
[1] Vgl. das autobiographische Werk von Jacques Derrida, Circonfessions, Paris 1991.
[2] Lipman Sznajder, Wladek war ein falscher Name. Die wahre Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen, München, Selbstverlag 1991.
[3] Ebd., S. 158-159.
[4] Ebd. S. 271.
[5] Ebd. 140 f.; 172; 176; 212; 238 ff.; 244 ff; 260 ff
[6] Ebd., S. 260. Ähnliche Erfahrungen berichtet Sally Perel, Ich war Hitlerjunge Salomon, Berlin 1992.
[7] Zit. v. Serge Klarsfeld, Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der ‚Endlösung der Judenfrage in Frankreich, dt. v. A. Meyer (Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 9), Nördlingen 1989, S. 279, vgl. den ganzen Abschnitt, S. 278-286. Der Verfasser Serge Klarsfeld hat die Razzien in Nizza in einem Schrank überlebt.
[8] Die Holocaust Chronik zeigt ein Foto mit einer Beschneidungskontrolle an einen polnischen Jungen, Potsdam 2010, S. 277.
[9] Zeugnis Abraham Hendel, Bet Jaakow, Nissan 5724 (1963), zit. in E. Rozen, J. Aronowicz (Hg.), Célébration dans la tourmente. La résistence spirituelle dans les ghettos et les camps de concentration. Témoignages (1970), Verdier 1993, S. 16-17.
[10] Sacred Fire. Torah from the Years of Fury 1939-1942 (2002), engl. v. J. Hershy Worch, D. Miller, Lanham i. a. 2004, S. 166. Er stützt sich auf den Midrasch, Mechilta Bo 5, 1 und Raschi z. St..
[11] Yaffa Eliach. Träume vom Überleben. Chassidische Geschichten aus dem 20. Jahrhundert, S. 138-140.
[12] With God in Hell. Judaism in the Ghettos and Deathcamps, New York, London 1976, S. 44.
[13] Tana DeWe Elijahu, 23, Nr. 10.
[14] Rabbi Shimon Huberband hat im Gegensatz zu den Bart- und Torarollenmärtyrer keine Rubrik zum Thema Beschneidung, Kiddusch Hashem: Jewish Religious and cultural Life in Poland during the Holocaust, J. S. Gurock, R. S. Hirt (Hg.), engl. D. E. Fishman, New York 1987.
[15] Im Ghetto Lodz gab es sogar einen offiziellen Beschneider, der allerdings fast „arbeitslos” war, vgl. Isaiah Trunk, Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation, Lincoln 1972, S. 193.
[16] D. h. nicht, dass die Beschneidung keine Rolle in der antisemitischen Propaganda gespielt hätte, Julius Streicher soll von der Beschneidung geradezu besessen gewesen sein.
[17] Zum Begriff des „nichtjüdischen Juden“, vgl. Isaac Deutscher, Der nichtjüdische Jude. Essays, Berlin 1988.
[18] Theologisch – Politischer Traktat, III, Opera, Heidelberg 1925, Bd. III, S. 56,24f.. Sämtliche Werke, Hamburg 1976, Bd. 3, 63, 18 f..
[19] Ebd., Opera III, S. 57; Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 63 f..
[20] Ebd., Opera III, S. 57,10-13; Sämtliche Werke S. 63, 40 – 64,10.
[21] Opera III, S. 57, 4.
[22] Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution 1. Tl. [Danzig] 1793, S. 188-193.
[23] Sander L. Gilman, Freud, Identität und Geschlecht (1993), dt. v. H. J. Bußmann, Frankfurt/M, S. 85-118. Eine populäre Zusammenfassung seiner Thesen findet sich in: Ders: Der Jüdische Körper, Julius H. Schoeps, Joachim Schlöhr (Hg.), Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, München 1995, S. 169-173. Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997, S. 84-93. Ders.: Die deutschsprachige Beschneidungsdebatte im 19. Jahrhundert, in Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 13, 1 (2003), S. 189-209.
[24] Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 676.-680. Aufl., München 1941, S. 272 u. 277.
[25] Ebd. S. 772.
[26] Ebd. S. 334- 335,
[27] Ebd. S. 186.
[28] Ebd.
[29] Ebd. S. 772.
[30] Ebd.