«Die Schweiz hätte gewarnt sein müssen»

Herbert Winter, Präsident des Israelitischen Gemeindebunds, verteidigt die Haltung Israels im Nahostkonflikt
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Herbert Winter, Präsident des Israelitischen Gemeindebunds, verteidigt die Haltung Israels im Nahostkonflikt, findet aber auch: «Israels Politik darf man kritisieren. Die Israelis sind ja selber die schärfsten Kritiker.»

Zur Person

Herbert Winter, Jahrgang 1946, ist in Zürich geboren und aufgewachsen. Sein Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Zürich schloss er mit dem Anwaltspatent und dem Doktortitel ab. Er bildete sich in Amsterdam und London weiter und arbeitete von 1976-1980 in Brüssel und 1981 in New York. Von 1981 bis 1968 war er als europäischer Rechtskonsulent für die Firma Philipp Brothers AG in Zug tätig, seit 1986 ist er Partner bei der Kanzlei Winter & Partner in Zürich. Ausserberuflich ist er heute unter anderem Mitglied des Beirats der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und – seit Mai 2008 – Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Herbert Winter ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt in Zürich.

Herr Winter, warum war es falsch, Ahmadinejad in Genf offiziell zu empfangen?
Herbert Winter: Ahmadinejad ist ein notorischer Holocaust -Leugner. Den Holocaust zu leugnen, ist in der Schweiz ein Straftatbestand. Er hat auch immer wieder die Vernichtung Israels verlangt. Es gäbe vielleicht dann einen Grund für ein solches Treffen, wenn die Amerikaner das gewünscht hätten, weil die Schweiz deren Interessen in Iran vertritt.

Sie sagen es: Die Schweiz ist Vermittlerin zwischen den USA und Iran. Da muss sie doch bereit sein, mit dem Präsidenten Irans zu reden.
Ich weiss, es gibt diplomatische Gepflogenheiten. Gibt es aber nicht auch das Recht, diese Gepflogenheiten irgendwann einmal zu verletzen, wenn es sich um eine solche Person handelt?

Bundespräsident Merz war vorsichtig, es gab kein Lächeln beim Händedruck, die Schweiz hat versucht, das Treffen auf kleiner Flamme zu halten.
Aber das ist nicht gelungen: Wenn ich mir die Bilder dieses Treffens ansehe, stelle ich fest, dass Bundespräsident Merz Ahmadinejad viel jovialer empfangen hat, als es für ein Arbeitstreffen der Fall sein müsste. Die Iraner haben mit diesen Bildern das Treffen gross ausgeschlachtet, womit man einfach rechnen musste.

War das Treffen für Sie einmal mehr also ein Ausdruck naiver Schweizer Diplomatie?
Ja, diesen Eindruck habe ich.

Ein prominenter Nahostkenner, Arnold Hottinger, hat im «Bund» erklärt, Ahmadinejad sei nicht der Teufel, zu dem er im Westen gestempelt werde.
Es gibt viele ernst zu nehmende Leute, die das anders sehen. Ahmadinejad hat den Holocaust immer wieder geleugnet oder zumindest infrage gestellt und zur Vernichtung Israels aufgerufen. Herr Hottinger kann glauben, was er will, ich nehme Ahmadinejads Drohungen sehr ernst.

Immerhin hat sich Ahmadinejad an einen gewissen Comment gehalten. Er hat in der Rede in Genf auf die Leugnung des Holocausts verzichtet.
Aber Ahmadinejad hat Israel als das «rassistischste Regime auf dieser Welt» dargestellt. Er hat vom «Weltzionismus» geredet, der zusammen mit anderen Mächten die Welt kaputt mache. Solche Verschwörungstheorien sind unerhörte antisemitische Äusserungen.

Ihre Meinung auf den Punkt gebracht: Mit einem Mann wie Ahmadinejad kann man nicht reden und nicht verhandeln.
Es kann Situationen geben, in denen es für die Schweiz gerechtfertigt ist, mit einem Mann wie Ahmadinejad zu reden. Aber dann muss der «Dialog», von dem man immer spricht, seriös vorbereitet sein. Laut Pressecommuniqué des Finanzdepartements ging es primär um bilaterale wirtschaftliche Probleme. Die Menschenrechtssituation in Iran wurde zwar auch angesprochen…

…immerhin das.
Immerhin. Gemäss der Medien-Mitteilung wurden aber weder die Holocaust-Leugnung noch der Wunsch der Zerstörung Israels angesprochen. Nur in einem späteren Communiqué des EDA hiess es dann plötzlich, das sei auch behandelt worden. Auf mich wirkt diese Art der Kommunikation etwas seltsam.

Ist es richtig, dass Israel als Protest auf das Treffen mit Ahmadinejad seinen Botschafter in Bern abberufen hat?
Als Dachverband der Schweizer Juden nehmen wir grundsätzlich keine Stellung zur Politik der israelischen Regierung. Weil es bei uns ein breites Meinungsspektrum gibt, von ganz links bis ganz rechts. Ich hoffe aber, dass der Botschafter bald zurückkommt.

Zum Krieg im Gazastreifen haben Sie aber Stellung genommen. Sie haben Ihrem Bedauern für beide Seiten und der Hoffnung Ausdruck gegeben, der Krieg möge bald enden.
Richtig. Ich bedauere die Tatsache und die Opfer jedes Krieges. Wir haben auch Verständnis für Israel geäussert, dass es sich den jahrelangen Raketenbeschuss nicht mehr gefallen liess.

Ein gewisses Verständnis gab es dafür auch in der Schweiz, aber nach dem Einmarsch in Gaza und seinen Folgen für die Bevölkerung war doch die Ansicht weit verbreitet, Israel sei zu weit gegangen.
Israel hat jene Massnahmen getroffen, die es für richtig hielt, um die jahrelangen Raketenangriffe zu stoppen. Leider haben diese Angriffe bis heute nie ganz aufgehört.

An der Menschenrechtskonferenz diese Woche in Genf haben einige Länder bei der Rede Ahmadinejads den Saal verlassen, die Schweizer Delegation blieb sitzen. Ein Fehler?
Das hat mich sehr betroffen gemacht, um es milde auszudrücken. Die Schweiz hätte wie die meisten europäischen Länder – und sogar arabische Staaten wie zum Beispiel Marokko – ein klares Zeichen setzen und den Saal verlassen müssen. Sitzen bleiben war auch eine Stellungnahme, vor allem, nachdem die Schweiz zuvor erklärt hatte, es nicht zulassen zu wollen, dass es an der Konferenz zu Auswüchsen komme.

Könnte die Schweiz eine glaubwürdige Vermittlerin zwischen Iran und den USA sein, wenn sie dem einen der beiden Staatspräsidenten nicht einmal zuhören würde?
An dieser Konferenz musste die Schweiz nicht zwischen Iran und den USA vermitteln. Im übrigen besteht keine Pflicht, sich solche Ungeheuerlichkeiten anzuhören, wie sie sich Ahmadinejad geleistet hat.

Zunächst sah es so aus, als ob Aussenministerin Calmy-Rey an der Konferenz nicht auftreten würde, sie hat dann aber doch ein Statement abgegeben.
Ich hätte gehofft, dass es die Schweiz mit einer Teilnahme auf der Ebene der Botschafter bewenden liesse.

Immerhin hat Calmy-Rey auch gegen den Inhalt der Rede Ahmadinejads protestiert.
Vorerst nur in einem informellen Pressegespräch. Erst einen Tag später kam eine offizielle Distanzierung durch das EDA. Viele Länder haben Ahmadinejads Äusserungen sofort verurteilt.

Hätte die Schweiz an dieser Konferenz gar nicht teilnehmen sollen?
Es wurde von Schweizer Seite erklärt, man wolle die Möglichkeit einer Nichtteilnahme bis zum Beginn der Konferenz offen halten. Mit der Ankündigung, Ahmadinejad werde sozusagen die Eröffnungsrede halten, hätte die Schweiz gewarnt sein müssen, dass es zu unakzeptablen Auswüchsen kommen würde. Offenbar aufgrund der Entwicklung des Schlussdokuments hat die Schweiz dann halt doch teilgenommen.

Dieses Dokument ist doch besser ausgefallen als erwartet.
Viel besser, als es zunächst aufgrund der verschiedenen Entwürfe aussah. Aber es bleibt das Problem des Absatzes 1, in dem das Schlussdokument der Konferenz von Durban bekräftigt wird. In jenem Dokument wurde Israel als einziges Land überhaupt genannt, es wurde beschuldigt, im Konflikt mit den Palästinensern Rassismus zu betreiben. Dieser Konflikt ist aber keine rassistische Auseinandersetzung, sondern eine politische. Und wenn man schon meint, Israel erwähnen zu müssen, hätte man eine ganze Reihe von Ländern, in denen es tatsächlich gravierende Menschenrechtsverletzungen gibt, auch erwähnen müssen. Somit wird Israel wiederum zum einzigen «Bösen» dieser Welt gestempelt, was gemäss der von der Schweiz gesetzten «roten Linie» nicht hätte geschehen dürfen.

Nicht nur von arabischer Seite wird Israel immer wieder vorgeworfen, seine arabischen Bürger als Zweitklassbürger zu behandeln.
In der Behandlung der arabischen Bürger Israels kann sicher einiges verbessert werden, das wird auch in Israel selber immer wieder thematisiert. Nur: Zeigen Sie mir das arabische Land, in dem seine eigenen Bürger eine so gute Rechtsstellung haben wie die Araber in Israel.

In der Schweiz ist die Haltung der Bevölkerung gegenüber Israel immer kritischer geworden. Wie erklären Sie sich das?
Das Bild Israels in der Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Ich glaube, die Schweizer Bevölkerung ist, wie die Bevölkerungen anderer Länder auch, nicht sehr gut informiert. Man spricht zum Beispiel immer von den Siedlungen, ohne welche es Frieden gäbe: Vor 1967 gab es keine Siedlungen, trotzdem wurde Israel von den Arabern nicht anerkannt. Und das Flüchtlingsproblem ist entstanden, nachdem die Uno 1947 eine Zweistaatenlösung mit einem jüdischen und arabischen Staat beschlossen hatte. Die Juden haben das akzeptiert, die Araber nicht. Die arabischen Nachbarstaaten begannen einen Krieg gegen Israel, und als Folge davon gab es Flüchtlinge. Es gibt aber nicht nur arabische Flüchtlinge: Viele arabische Länder haben ihre jüdische Bevölkerung, Hunderttausende von Menschen, vertrieben.

Es gibt aber immer noch jüdische Minderheiten in Syrien, Ägypten, Irak.
Da und dort gibt es noch einige Hundert. Sicher, Israels Politik darf man kritisieren. Die Israelis sind ja selber die schärfsten Kritiker, aber wenn man die Komplexität der Situation und die Geschichte berücksichtigt, sieht vieles anders aus.

1947 sei die Zweistaatenlösung von den Arabern nicht akzeptiert worden, sagen Sie. Heute wird diese Lösung von den Israelis nicht akzeptiert.
Stimmt nicht. Die israelischen Regierungen der letzten Jahre haben sich klar zur Zweistaatenlösung bekannt. Auch die Mehrheit der Bevölkerung ist dafür, dass Israel die meisten Siedlungen aufgibt.

Wieso passiert dann nichts?
Auf beiden Seiten sind viele Ängste aufgebaut worden. Beide Seiten misstrauen einander und blockieren sich. In Israel gibt es eine ständige Angst vor dem Terrorismus und das Gefühl, dass die Araber Israel einfach nicht akzeptieren wollen. In den palästinensischen Medien oder in palästinensischen Schulbüchern zum Beispiel wird ständig gegen Israel und die Juden gehetzt.

Sind diese Ängste in Israel der Grund, wieso das Land politisch nach rechts gerückt ist?
Israel rutscht immer dann nach rechts, wenn es angegriffen wird. Die Raketen, die auf Israel geschossen werden, bezeichnen manche nur als Spielzeugwaffen, aber es sind Waffen, die töten können und einen Drittel der Bevölkerung in einem ständigen Angstzustand halten. Wenn das Vertrauen in die Friedensbereitschaft der Gegenseite schwindet, kommen – nicht nur in Israel – weiter rechts stehende Regierungen an die Macht.

Gibt es Hoffnungen, dass sich die verfahrene Situation in Nahost mit Präsident Obama verändern könnte?
Obama scheint guten Willens zu sein, etwas erreichen zu wollen. Ich habe Hoffnungen, denke aber, dass sich Obama zuerst für die USA dringenderen Problemen zuwenden wird.

Auf Obama hoffen heisst auch erwarten, dass er mehr Druck auf Israel ausübt.
Mehr Druck auf beide Seiten. Amerika soll die Rolle des ehrlichen Vermittlers spielen. Ihre Fragestellung zeigt, dass Sie Israel als einzigen Bremsklotz sehen. Das stimmt einfach nicht.

Mit Palästinenserpräsident Abbas sollte es doch möglich sein, sich zu einigen.
Bei ihm muss man immer schauen, ob er sich gegenüber dem eigenen Volk oder gegenüber dem internationalen Publikum äussert. Gegenüber seinem eigenen Volk äussert er sich sehr viel unversöhnlicher als international. Die israelische Bevölkerung und die israelischen Regierungen in den letzten Jahren haben aber klar gesagt: Wir wollen die Zweistaatenlösung.

Ist das wirklich mehr als ein Lippenbekenntnis?
Ja, aber die Bedingungen müssen stimmen. Israel hält es zum Beispiel für unmöglich, die arabischen Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Wenn darauf bestanden wird, wird es keine Lösung geben. Auch muss den Sicherheitsbedürfnissen Israels Rechnung getragen werden. Beide Seiten müssen zu Kompromissen bereit sein, aber in der Schweiz wird Kompromissbereitschaft nur von Israel verlangt.

Das illustriert, dass in der Schweiz die Stimmung gegen Israel umgeschlagen hat.
Wir erhalten auch relativ viele Stellungnahmen von Leuten, die sich über die Haltung gewisser Medien und der Schweizer Regierung gegenüber Israel beklagen. Aber sicher haben sich die Meinungen verschoben.

Ist es ein Generationenproblem – Zustimmung für Israel eher von älteren Menschen, scharfe Kritik von jüngeren?
Das kann ich nicht beurteilen. Hinter scharf formulierter Kritik stecken teilweise auch Unwissen, seltener aber auch klar antisemitische Einstellungen, etwa wenn Israel mit den Nazis verglichen wird.

Besteht nicht auch die Tendenz, Kritik an Israel sofort antisemitische Motive zu unterstellen?
Ich möchte es so formulieren, wie ich es kürzlich in einem andern Kreis gehört habe: Wenn alle Israel-Kritiker Antisemiten wären, wäre ganz Tel Aviv antisemitisch, da es dort so viele Menschen gibt, die die Politik der eigenen Regierung kritisieren.

Dennoch die Frage: Gibt es so etwas wie aufkeimenden Antisemitismus?
Ich glaube nicht. Antisemitismus hat es schon immer gegeben und wird es wohl immer geben. Jedes Mal, wenn die Politik Israels auf Kritik stösst, erlaubt das gewissen Leuten, ihren antisemitischen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Sie sind seit knapp einem Jahr Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Haben Sie nie bereut, diesen Posten übernommen zu haben?
Nein. Es ist eine spannende, bereichernde Aufgabe. Es ist aber auch ein schwieriger Posten, weil ich immer zwei Publika habe: das Gesamtschweizer Publikum und unsere Basis.

Welches ist das kritischere Publikum?
Gute Frage. Aus unserer Basis kommen mehr Rückmeldungen, positive und kritische.

Was war die bedrückendste Erfahrung in diesem knappen Jahr?
Die Entwicklung im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche, nachdem wir doch in den letzten Jahrzehnten ermutigende Fortschritte gemacht hatten. Der Dialog ist heute leider belastet. Das hat vor zirka zwei Jahren mit der Wiederzulassung des alten Karfreitagsfürbittegebets für die Juden begonnen, in dem für die Bekehrung der Juden zu Jesus gebetet wird. Dann kam die Rehabilitierung der vier Bischöfe der antisemitischen Pius-Bruderschaft, unter ihnen der Holocaust-Leugner Williamson. Parallel dazu gibt es Bestrebungen, Papst Pius XII., dessen Haltung während des Zweiten Weltkrieges hoch umstritten ist, heiligzusprechen. Dem Vatikan scheint es wichtig zu sein, sich wieder mit seinen Randgruppen zu verstehen, auch wenn das auf Kosten des Dialogs mit den Juden geht.

Und was gab es in Ihrem Amt Erfreuliches?
Ich habe erfahren, dass ich unsere Meinungen in Politik und Medien einbringen kann. Die Stimme, die Beiträge und Anliegen der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz werden gehört, auch wenn es um Themen wie Menschenrechte, Ausländer, Asyl oder den interreligiösen Dialog geht.

Sie haben sich gegen die Minarett-Initiative ausgesprochen.
Wir haben sie ganz klar abgelehnt. Sie verletzt die Religionsfreiheit und gefährdet den Religionsfrieden. Es macht mir Sorgen, dass es im Abstimmungskampf zu wüsten Auswüchsen vonseiten der Befürworter kommen könnte. (Der Bund)

«Die Schweiz hätte gewarnt sein müssen»

Herbert Winter, Präsident des Israelitischen Gemeindebunds, verteidigt die Haltung Israels im Nahostkonflikt
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