Im Schatten des Holocaust

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Im Schatten des Holocaust
Im Schatten des Holocaust. James F. Tent. Published by B÷hlau-Verlag GmbH, 2007. EUR 24,90 pp.352

Der Band präsentiert nicht nur «gebrochene» Lebensläufe, sondern auch vielerlei spannende Details über das jüdische Leben in Deutschland und in der Schweiz.

Das Buch

Als Mitglied der Bergier-Kommission hat Jacques Picard Material zur Schweizer Vergangenheitsbewältigung gesammelt, während er sich als Professor für jüdische Geschichte in Basel dezidiert mit dem Schicksal jüdischer Menschen beschäftigt. Und beides kommt nun zusammen in «Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil».

Es geht da um Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus lebten, aber diese Heimsuchung mehr oder weniger unbeschadet überstanden, ja sogar in der Lage waren, Zeugnisse zu hinterlassen, in denen sie ihre Verfolgung und Ausgrenzung künstlerisch, literarisch oder sonstwie dokumentierten. Und was wichtig ist, ja recht eigentlich den Anlass für das Buch gab: Alle dargestellten Biografien haben, ob die Betroffenen nach dem Krieg dageblieben sind oder nicht, ihren Fluchtpunkt in der Schweiz.

Trockener Ansatz

«Gebrochene Zeit» präsentiert sich, vor allem in seinem umfangreichen Anhangteil, als eine akademische These über die Frage, ob biografisches Schreiben und insbesondere die Nacherzählung jüdischer Schicksale überhaupt möglich seien respektive was für Klippen dabei zu überwinden sind. Was da etwas trocken-gelehrt daherkommt, spricht vielleicht eher eine wissenschaftlich orientierte Leserschaft an, ändert aber nichts daran, dass die im Hauptteil dargestellten Paare und ihre Geschichten ganz für sich selbst sprechen und einen berührenden Eindruck von den Wegen und Umwegen jüdischer Schicksale im 20. Jahrhundert vermitteln.

Ein Uhrmacher aus Polen

Leon Reich stammt aus einer chassidischen Familie aus der Nähe von Krakau und wurde Uhrmacher, gab sich aber, als er nach Auschwitz und später nach Buchenwald kam, als Elektriker aus und überlebte so die Vernichtungslager. Weil er sich jünger machte, als er war, kam er 1945, nach der Befreiung, ins «Uhrenparadies Schweiz», wo er seine Ausbildung abschliessen konnte, aber am Ende nach Israel ausreisen musste. Eines Umschulungskurses wegen erneut in die Schweiz gekommen, lernte er in Biel seine spätere Frau, Ruth Sztul, kennen, die aus einer französischen jüdischen Familie stammte und sich 1942 ebenfalls in die Schweiz hatte retten können. Obwohl man ihm immer wieder die Ausreise «nahelegte», blieb Reich mit seiner jungen Frau in der Schweiz und arbeitete sich dank bahnbrechenden Erfindungen zum Unternehmer und Besitzer eines weltweit erfolgreichen Uhrenzulieferbetriebs empor.

Reich, Vater dreier Söhne, arbeitet noch immer engagiert mit, damit das, was er in Auschwitz und Buchenwald erlebte, nicht in Vergessenheit gerät. Und wenn er in Schweizer Schulen vom Holocaust berichtet, macht er die Zahl von sechs Millionen Ermordeten wie folgt plausibel: «Stellen Sie sich vor, Sie hätten sechs Millionen Fotografien und sie würden jedes Bild nur zehn Sekunden lang betrachten. Sie brauchten fünf Jahre und neun Monate dafür.»

Wissenschaft im Exil

In einen ganz anderen Bereich führt das Kapitel über den Philosophen Hermann Levin Goldschmidt, der 1914 in Berlin zur Welt kam und beim Verlagshaus Ullstein arbeitete, ehe er 1938 nach Zürich übersiedelte, wo er trotz mehrfacher Aufforderung zur Weiterreise blieb und 1963, nach der Heirat mit der Galeristin Mary Bollag, auch das Bürgerrecht bekam. Goldschmidts Schicksal ist deshalb bemerkenswert, weil er sich früh philosophisch mit dem jüdischen Exil auseinanderzusetzen begann und weil er mit seiner Dialogik aus der Situation des Exilierten heraus einen gewichtigen Beitrag zur philosophischen Methodik als solcher beisteuerte. Sein Beispiel dokumentiert aber auch den versteckten Antisemitismus im Zürcher Universitätsbetrieb, wo man darauf achtete, «das jüdische Element nicht übermässig wachsen zu lassen», und es bis zu seinem Tod im Jahre 1998 konsequent zu verhindern wusste, dass der bedeutendste philosophische Kopf des Zürcher Judentums Privatdozent, geschweige denn Ordinarius werden konnte.

Ganz anders verlief, allerdings im liberalen Amerika, die Karriere von Herbert A. Strauss (1918-2005), der 1943, kurz nach seiner Frau Lotte, aus Berlin in die Schweiz fliehen konnte. Er studierte in Bern weiter, machte da seinen Doktor und wurde 1946 Professor für Geschichte am City College in New York. 1982 bis 1990 war er Professor an der Technischen Universität Berlin und baute dort das Zentrum für Antisemitismusforschung auf, griff mit seinen eigenen Arbeiten aber weit über die spezifisch jüdische Thematik hinaus.

Künstler und Puppenspieler

Während bei Goldschmidt und Strauss das Biografische eher nur skizziert und das Schwergewicht auf ihre Forschungen verlagert ist, erzählt Picard die verschlungenen Lebenswege von Ruth und Simche Schwarz-Hepner wiederum in allen Details auf spannende Weise nach.

Der 1900 in Rumänien geborene Simche Schwarz war ein führender Autor, Rezitator und Schauspieler jiddischer Sprache und betrieb, nachdem er auf abenteuerliche Weise 1942 in die Schweiz gekommen war, als Internierter ein eigentliches jiddisches Theater, das von Lager zu Lager auf Tournee ging. In diesem Flüchtlingstheater, das den Namen «Nawenad» trug, lernte er die 23 Jahre jüngere Ruth Hepner kennen, die seine Frau wurde und mit der zusammen er die Truppe 1945 nach Frankreich führte, wo sie sie in «Hakl Bakl» umtauften und jiddische Puppenstücke von Marc Chagall spielten. 1952 aber siedelten sie nach Argentinien um, wo Ruth als Psychoanalytikerin arbeitete und Simche Schwarz bis zu seinem Tod im Jahre 1974 wiederum wie in seiner Jugend als Plastiker und Bildhauer tätig war. Eine Kunstform, die ihm, so Picard, «nach dem Untergang des Jiddischen in Europa zur universalen Sprache der jüdischen Kultur wurde.»

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