Die Synthese von Kopf und Herz

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Die Synthese von Kopf und Herz
GedSchtnisraum Europa. Natan Sznaider. Published by Transcript Verlag, 2008. EUR 16,80 pp.156

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Anno 1942 zwang ein SS-Offizier in Drohobytsch den jüdischen Dichtermaler Bruno Schulz, die Wände des Kinderzimmers seiner Villa mit Gemälden zu verzieren. Schulz wählte Motive aus Grimms Märchen, er produzierte also urdeutsche Bilder. Wenig später wurde er auf offener Straße erschossen und mit Hunderten anderen in einem Massengrab verscharrt. 2001 fand ein deutscher Filmemacher die Villa, in der Bruno Schulz sein letztes Werk geschaffen hatte. Wenig später waren die Wände mit den Märchenfiguren verschwunden: Ein israelisches Kommando hatte sie in aller Heimlichkeit nach Jerusalem geschafft, heute werden sie in der Holocaustgedenkstätte “Yad Vashem” verwahrt. Danach entbrannte eine wütende Debatte: Israel, so sagten einige Kritiker, habe das Völkerrecht gebrochen, vor allem die “Bestimmungen zum Schutz des Kulturgutes”. Auf finstere Weise war dieser Vorwurf beinahe lustig. Denn jene völkerrechtlichen Bestimmungen waren einst geschaffen worden, um die Plünderungen von jüdischem Kulturgut durch die Nazis wiedergutzumachen.

Wir sind längst mitten im Thema von Natan Sznaiders Essay “Gedächtnisraum Europa”. Was im Fall des Bruno Schulz zusammenstieß, waren zwei unterschiedliche Visionen: Die eine war die kosmopolitische, die universale Idee von einem im Frieden vereinten Europa. Ihr zufolge war Bruno Schulz ein Ukrainer und Pole, ferner auch ein Jude, jedenfalls ein Europäer, und sein Kunstwerk gehörte in die Alte Welt. Dieser Vision zufolge hätten die Wände der Villa in Drohobytsch in ein Museum verwandelt werden müssen, um Schulz’ und der anderen Opfer zu gedenken. Die andere Idee ist die nicht besonders kosmopolitische, die partikulare Idee vom jüdischen Nationalstaat. Ihr zufolge hatte Bruno Schulz als Jude zu gelten, nichts sonst, denn als Jude war er ermordet worden. Sein letztes Kunstwerk hatte er unter Zwang geschaffen. Es gehört in den Kontext des Völkermordes, keinen anderen. Seine logische Heimat ist darum “Yad Vashem”. In Europa hat dieses Dokument eines einzigartigen Verbrechens nichts mehr zu suchen.

Was diesen Essay so spannend macht, ist, dass Sznaider mit dem Herzen der zweiten Vision zuneigt, mit dem Kopf aber ständig Argumente für den Kosmopolitismus sucht. Denn seine Lehrer – allen voran der Soziologe Ulrich Beck – haben ihm den Floh vom Weltbürgertum ins Ohr gesetzt: Sie haben ihn für die Idee eines universalen Staates begeistert, der groß genug ist, nicht nur Menschen aus aller Herren Länder, sondern sogar verschiedene Nationen in sich aufzunehmen. Sein jüdisches Herz aber traut dem allesversöhnenden Pathos nicht. “Es ist nur ein Streit in der Welt”, schrieb Hölderlin in einem seiner Briefe, nämlich “was mehr sei: das Ganze oder die Teile”. Wenn Natan Sznaider mit seinem Soziologenkopf denkt, dann antwortet er: das Ganze. Dann wirft er dem Kosmopolitismus nur vor, dass er “nicht kosmopolitisch genug” sei. Aber sobald Sznaider mit dem Herzen zu denken beginnt, erwidert er brüsk: die Teile. Das gilt vor allem, wenn er sich an den Holocaust erinnert. Richtig furios geraten ihm jene Passagen, wo er an die “jüdischen Stimmen” erinnert, die sich im Nachkriegseuropa gegen das Eiapopeia von der Versöhnung aufbäumten (Jankelevitch, Améry). Offenbar findet Sznaider jene Deutungen des Genozids an den Juden ziemlich unerträglich, die in ihm ein allgemeines “Verbrechen gegen die Menschheit” sehen wollen, das von irgendeinem Allerweltstäter – “der Moderne” – verübt worden sei. Solche Interpretationen, so Sznaider, “entfernen sich von den jüdischen Opfern des Holocaust, die in dieser kosmopolitischen Perspektive im Namen der,Menschheit’ nochmals geopfert werden. Es handelt sich… um eine radikal christliche Vereinnahmung der jüdischen Katastrophe, die sich aber gleichzeitig als fortschrittlich und frei von ethnischen Bindungen präsentiert.” Die Synthese von Kopf und Herz, von Kosmopolitismus und jüdischem Partikularismus, findet Sznaider in den USA, einem Nationalstaat ohne Staatsnation, in dem die Identität der einzelnen Ethnien nicht zugunsten eines größeren Ganzen aufgegeben werden muss.

Wenn man Sznaiders Essay etwas vorwerfen kann, dann nur: Er ist nicht radikal genug. Schließlich gibt es längst einen neuen Antisemitismus, der gelernt hat, den Jargon der Menschenrechte und des Universalismus zu sprechen. Doch ganz originell ist auch diese Form des Antisemitismus nicht. In einer der letzten Szenen von Shakespeares “Der Kaufmann von Venedig” wird der reiche jüdische Geldverleiher Shylock in einem Schauprozess nach und nach um alles gebracht, was ihm lieb und teuer ist: seine Tochter, sein Vermögen, seine Religion, seine Rache. All dies im Namen der christlichen Güte und Milde. Am Schluss muss Shylock den entsetzlichen Satz sagen: “I am content” – Ich bin’s zufrieden. Natan Sznaider weigert sich, “Ich bin’s zufrieden” zu sagen, obwohl er an den Kosmopolitismus glaubt. Respekt.

Natan Sznaider: Gedächtnisraum Europa. Transcript, Bielefeld. 153 S., 16,80 Euro.

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