Jürgen König: Judaphobie

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In Großbritannien und im übrigen Europa breitet sich ein neuer Antisemitismus aus – unter jungen Muslimen und in linksliberalen Kreisen.

http://zeus.zeit.de/text/online/2007/17/antisemitismus

Vor ein paar Wochen sollte der deutsche Politikwissenschaftler Mathias Küntzel in Leeds einen Vortrag über islamischen Antisemitismus halten. Es kam nicht dazu. Die Leitung der Universität setzte den Vortrag kurzerhand ab, aus Sicherheitsgründen. Das Thema galt als zu „kontrovers“, weil sich muslimische Studenten im Vorfeld beschwert hatten. Das reichte.

Nach ähnlichem Muster wird offenkundig auch an englischen Schulen verfahren. Eine Untersuchung des Erziehungsministeriums erbrachte jetzt, dass Lehrer den Holocaust vom Unterricht absetzen, weil sie Konflikte vermeiden wollen. Sie fürchten die Auseinandersetzung mit muslimischen Schülern, die antisemitisch orientiert sind und den Holocaust leugnen. Aus dem gleichen Grund wird an vielen Schulen im Geschichtsunterricht für 11- bis 14-Jährige auf die Behandlung der Kreuzzüge verzichtet. Die Studie befand, Lehrer seien nicht gewillt, gegen „emotional aufgeladene, höchst problematische Versionen“ bestimmter historischer Ereignisse anzugehen, mit denen „muslimische Schüler zu Hause, in ihrer Umgebung oder an Orten des Gebetes aufwachsen“.

Zugleich deutet die Studie an, dass die Kenntnisse vor allem von Lehrern an Grundschulen oftmals unzureichend sind. Das führe dazu, dass Geschichte häufig äußerst „oberflächlich“ gelehrt werde; heikle Themen würden „simplifiziert und unreflektiert“ behandelt. Mittlerweile versucht die britische Regierung zu beschwichtigen, weil weltweit E-Mails zirkulieren, in denen Großbritannien vorgeworfen wird, sich islamistischem Druck gebeugt und den Holocaust aus dem Unterricht verbannt zu haben. Das Erziehungsministerium stellte in einer offiziellen Erklärung klar, dass die Judenvernichtung Pflichtthema im Unterricht für die 11- bis 14-Jährigen bleibe.

Dennoch liefert die Untersuchung ein Indiz dafür, dass antisemitische Auffassungen in den muslimischen Minoritäten Europas weit verbreitet und unter jungen Muslimen besonders ausgeprägt sind. So betrachten nach einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr knapp 40 Prozent der britischen Muslime Juden als „legitime Ziele im Kampf für eine gerechte Ordnung im Nahen Osten“. Ein zutiefst beunruhigender Befund, nicht nur für Juden. In Frankreich hat die Welle der Angriffe jugendlicher Franzosen arabischer Herkunft auf jüdische Bürger weiter zugenommen. Berichtet wird darüber eher spärlich. Seit Islamisten und nicht Rechtsextremisten Hatz auf Juden machen und Terroranschläge gegen sie verüben, hält sich die Aufregung in Grenzen.

Die EU möchte ein gesetzliches Verbot der Holocaustleugnung in allen Mitgliedsländern erreichen; man kann dies getrost als stillschweigendes Eingeständnis werten, dass ein Problem existiert und dringender Handlungsbedarf besteht. Zugleich wird die Kluft deutlich, die zwischen der Politik und der Realität vor Ort, der Arbeit der Bildungsinstitutionen, besteht: Während die Politik das Leugnen des Holocaustes unter Strafe stellt, verzichten Schulen und Universitäten stillschweigend darauf, das Thema auch nur zu behandeln – aus Angst vor Protest und Widerstand von Muslimen.

Der klassische Antisemitismus von rechts, schmuddlig und rassistisch, spielt in Europa nur noch eine untergeordnete Rolle. Bis auf einen unverbesserlichen Bodensatz sind die europäischer Gesellschaften dagegen weitgehend immun geworden. Benny Peiser, Anthropologe an der Universität Liverpool, verweist auf ein „Paradox“: durch den Holocaust, Auswanderung und die Gründung des Staates Israel gebe es in Europa eigentlich keine „jüdische Welt“ mehr, sondern nur noch vereinzelte jüdische Gemeinden. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Europa an die zehn Millionen Juden. Heute beläuft sich ihre Zahl auf kaum mehr als eine Million. In Frankreich und Großbritannien sind mit rund 600.000 bzw. 250.000 die größten Gemeinden zu finden. Doch zugleich nimmt quer durch Europa ein Antisemitismus zu, der aus neuen Quellen gespeist wird.

Einmal reflektiert sich darin die stetig wachsende Zahl muslimischer Einwanderer. Zum anderen entspringt der neue Antisemitismus einer veränderten Einstellung des linken und linksliberalen Milieus. Man bedient sich neuer Begriffe, um diesen Trend zu erfassen. In Großbritannien wird seit einiger Zeit von „Judaophobie“ gesprochen, ein unscharfer Begriff, in dem „Antizionismus“, die Verdammung der Palästinapolitik Israels und ein generelles Gefühl der Antipathie gegen Juden zusammenfließen. Oder man spricht vom „neuen“, vom „linken Antisemitismus“, der vielleicht besser „Antizionismus“ genannt werden sollte.

Vor wenigen Dekaden noch wäre es kaum möglich gewesen, dem linken Lager eine besondere Abneigung gegen Juden zu unterstellen. Der Enthusiasmus für den Sozialismus der Kibbutzbewegung war bei jungen Linken aus Europa ausgeprägt. Der neue Staat der Juden wurde weithin unterstützt. Zu ändern begann sich das, als in den siebziger Jahren linksradikale Gruppierungen, die später in den Terrorismus abglitten – wie die RAF in Deutschland – den Gleichklang ihres „revolutionären Kampfes“ mit Guerillagruppen der Dritten Welt und besonders der PLO entdeckten. Die Linke begann sich mit dem Kampf der Palästinenser zu identifizierten; ihre extremen Vertreter ließen sich in den Lagern der PLO im Guerillakampf ausbilden.

Jahrhundertelang waren die Juden ein Volk ohne Staat und Territorium. Zwangsläufig kamen sie dem Ideal des Weltbürgers nahe, das sozialistische Utopisten beflügelte und heute, in eigentümlich verdrehter Weise, fortlebt in der Ideologie des Multikulturalismus. Der jüdische Beitrag zu Ideen, die die Überwindung des Nationalstaates anstrebten, war erheblich, wie die Namen Marx und Trotzki belegen.

Aus radikaler linker Perspektive war also schon die Gründung Israels ein Sündenfall. Je klarer sich herauskristallisierte, dass der jüdische Staat seine Interessen ruppig, notfalls auch mit kriegerischen Mittel verfolgte, desto mehr wuchs die Abneigung. Die enge Verbindung Israels mit der „imperialistischen“, kapitalistischen Supermacht USA stellt für die Linke den zweiten Sündenfall dar. Das linksliberale Milieu, nach dem Scheitern des Kommunismus seiner Utopie beraubt, aber deshalb nicht weniger „antiimperialistisch“ und „antikapitalistisch“, gab sich fortan noch stärker dem „Selbsthass“ auf den Westen hin. Damit untrennbar verbunden ist ein vehementer Antiamerikanismus, der zugleich auf Israel projiziert wird, den Klientelstaat Amerikas.

Weil in Deutschland das Holocaust-Tabu wirkt, halten sich hierzulande solche Stimmungen in Grenzen. Das Gefühl kollektiver Schuld an der Vernichtung der Juden ist noch zu frisch. Dafür scheint es immer erfolgversprechend, an antiamerikanische Reflexe zu appellieren, wie es unlängst SPD-Chef Kurt Beck mit seiner Kritik an den Raketenplänen der USA tat.
Anderswo in Europa ist man weniger zurückhaltend, nicht zuletzt in Großbritannien. Während einer Londoner Dinnerparty äußerte eine Verlegerin in einer Diskussion über den israelisch-palästinensischen Konflikt ganz unbefangen, die Juden seien sicher enorm begabt und geschickt, aber allzu oft „awkward and always troublesome“, irgendwie schwierig, unbequem und stets für Ärger sorgend. Auch habe die „jüdische Lobby“ einen viel zu großen Einfluss auf die Regierungen des Westens.

Die Dame, die sich als „typische Liberale“ bezeichnet, steht mit ihrem Weltbild nicht alleine. Auch in der BBC und in linksliberalen Blättern wie dem Guardian werden ähnliche Ansichten verbreitet. Selbst in der Politik sind sie zu finden. So beklagte vor Jahren der schottische Labourveteran Tam Dayell den „übermächtigen Einfluss einer jüdischen Kabbale“ auf die Regierung von Tony Blair. Als Beweis für seine These führte Dayell, in einer Mischung aus lang etablierten aristokratischem Vorurteil über den „zersetzenden Effekt von Juden auf die Gesellschaft“ und „neuer linker Heuchelei“ (so der Autor Barry Kozmin) die Namen Peter Mandelson und den des damaligen Außenministers Jack Straw an. Beide waren bis dahin nicht als „jüdisch“ bekannt. Der Economist kommentierte lakonisch, die genetische Zuordnung Tam Dayells treffe nur zu, wenn man sich die Kriterien von Hitlers Rassengesetzen zu Eigen mache.

Chris Davies, Führer der Liberaldemokraten im Europaparlament, musste 2006 zurücktreten, nachdem er auf die Kritik einer israelischen Zeitungsleserin mit wütenden Ausfällen per E-Mail reagiert hatte. Die Leserin hatte gefragt, warum liberale Zeitgenossen Israel unaufhörlich mit den schärfsten Vorwürfen attackierten, aber extremistische Muslime unterstützten, die homophobisch, frauenfeindlich und intolerant gegenüber anderen Religionen seien. Davies hatte Israel zuvor beschuldigt, als „Opfer zu posieren“, während es „rassistische Politik der Apartheid“ praktiziere.

Die existenzielle Bedrohung, der Israel ausgesetzt ist, wird in diesen Kreisen systematisch ignoriert. Zugleich wird die Gefahr, die der totalitäre Islam darstellt, entweder heruntergespielt oder ganz verneint. Und während Israel, die einzige liberale Demokratie des Nahen Ostens, hyperkritisch unter die Lupe genommen wird, springen dieselben Liberalen und Linken mit dubiosen Regimen, die Menschenrechte systematisch verletzten, äußerst sanft um. So beschließen akademische Verbände in Großbritannien immer wieder den Boykott israelischer Wissenschaftler und Universitäten, nicht aber aus China, Sudan oder Russland, obwohl beispielsweise Russland sehr viel mehr Menschen in Tschetschenien getötet hat als Israel in Palästina.

Weithin üblich geworden ist es im linken und linksliberalen Diskurs, vom „Unrechtstaat“ Israel zu sprechen; die Verwendung historisch besonders negativ besetzter Begriffe wirkt absichtsvoll. Wer den Israelis Methoden wie „Nazideutschland“ unterstellt, vom „Apartheidstaat“ spricht oder gar Parallelen zum Holocaust zieht, will offenkundig eines klarmachen: Israel und die Juden, die den Holocaust erlitten, haben inzwischen jeglichen moralischen Anspruch verwirkt. Sie besitzen kein Anrecht mehr auf Unterstützung.

Wohlgemerkt: Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern ist legitim und nötig. Dazu gehört auch, die Neigung mancher jüdischer Kreise zu benennen, den Holocaust zu instrumentalisieren, um unliebsame Kritiker zum Schweigen zu bringen. Doch eines sollte man nicht übersehen: Kritik an der Politik Israels dient oftmals als Vorwand für eine generelle Abrechnung mit dem angeblich ach so starken Einfluss der Juden. Harte Linke und extreme Islamisten haben längst eine Allianz geschmiedet, wie in Großbritannien die “Anti-War”-Kampagne und die „Respect“-Partei des Stalinisten und Saddam-Hussein-Verehrers George Galloway beweist. In Frankreich warb der Rechtsextremist Le Pen vor der Präsidentenwahl gezielt in den Banlieus um die Stimmen arabischer Wähler.

Wäre es nicht an der Zeit, dass linksliberale „Wohlmeinende“ sich besinnen, ihren Selbsthass ablegen und erkennen, wo die Feinde von Freiheit und Menschenrechten wirklich zu finden sind?

ZEIT online

16/2007

Jürgen König: Judaphobie

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