Karl Pfeifer: Österreichs Abwehr der Erinnerung

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Anmerkungen eines Überlebenden der NS-Diktatur zum Umgang mit der Zeitgeschichte an Österreichs Schulen und zu Fehlwahrnehmungen in den heimischen Medien.

Am 27. Mai veröffentlichte der Falter kommentarlos ein Interview mit Norman Finkelstein, das wortgleich auch in einem rechtsextremistischen Blatt hätte erscheinen können. Die Leser erfahren, dass die Uni Wien Finkelstein “nach Interventionen der Israelitischen Kultusgemeinde” ausgeladen hat. Warum er ausgeladen wurde, wird nicht erwähnt.

Finkelstein meint u.a.: “Die Überlebenden hätten von vornherein nichts mit dem Gedenken zu tun haben sollen.” Und: “Jeder beansprucht für sich, im Widerstand gewesen oder ein Holocaust-Überlebender zu sein. Meine Mutter sagte, wenn jeder ein Überlebender ist, der das behauptet, wen hat Hitler dann eigentlich ermordet?” Der “Holocaustgeschäfts”-Autor schimpft den verstorbenen Simon Wiesenthal einen “Gauner” und projiziert sein eigenes Verhalten auf andere, indem er behauptet, diejenigen, die über den Holocaust reden, hätten “ein finanzielles oder politisches Interesse”. Wie man sieht, sind die Rechtsextremisten leider nicht allein, wenn es um Erinnerungsabwehr in Österreich geht. Wer so wie ich das Glück hatte zu überleben, hat gerade deswegen die moralische Pflicht, nicht zu schweigen.

“Saujud’, sag Heil Hitler”

Im April 1938 war ich noch nicht zehn Jahre alt, als ich von drei oder vier 14-jährigen Hitler-Jungen an den Zaun des Nachbarhauses gedrückt wurde, einer packte mich an der Gurgel und alle forderten von mir: “Saujud’, sag Heil Hitler.” Zu meinem Glück kam die Besitzerin des Nachbarhauses heraus und drohte ihnen Watschen an. Die Burschen rannten weg und schon am nächsten Tag nahmen mich meine Eltern aus der Volksschule. 71 Jahre später höre ich auf einer Wiener Straße ein junges Mädchen, das ihrer Freundin erzählt: “I hob aner Türkin des Kopftuch runtergerissen.” Ich reagiere mit “Schäm Dich!”, sie antwortet schnippisch: “Des war eh nur eine Türkin.”

Seit einigen Jahren gehe ich als Zeitzeuge in österreichische Schulen, um meistens 14-15-jährigen Schülern von einer unbeschwerten Kindheit in meiner Heimatstadt Baden bei Wien zu erzählen, die im Frühjahr 1938 zu einem jähen Ende kam, von der Flucht nach Ungarn und wie ich dort binnen kürzester Zeit die mir fremde Sprache erlernen musste. Ich rede 20-25 Minuten, und dann haben die Schüler 100 Minuten Zeit, ihre Fragen zu stellen, aus denen ich oft Neugierde, Mitgefühl und Empathie erfahre.

Es ist gut, dass die Schüler jede Frage, die sie beschäftigt, stellen können. Kein Thema ist tabuisiert, und es kommen auch sehr persönliche Fragen, die nicht immer leicht zu beantworten sind.

Die Frage, wie es mir ergangen ist, als ich in kürzester Zeit Ungarisch lernen musste und was dann passierte, wird sehr häufig gestellt, weil das eine Erfahrung ist, die einige Schüler selbst gemacht haben. Oft wird gefragt: “Warum werden Juden gehasst?”, “Was ist Antisemitismus?” oder “Was würden Sie einem Nationalsozialisten sagen?”

Manchmal kommen auch Fragen zur aktuellen Politik, was ja kein Wunder ist, werden doch diese Schüler in ein, zwei Jahren wählen können, und fast immer werde ich auf Fremdenfeindlichkeit heute und hier angesprochen. Mancher Lehrer ist auch besorgt über solche Erscheinungen an seiner Schule. Im Rahmen des Zeitzeugenprogramms des BMUKK wurde heuer im März in Kirchdorf an der Krems der 87 Minuten dauernde Film über mein Leben 16-18-jährigen Schülern gezeigt, und ich war über die Aufmerksamkeit der 120 Schüler und die 90 Minuten danach überrascht, in denen ich ihre intelligenten, gut formulierten Fragen beantwortete. Einige Schüler stellten auch Fragen zum Islamismus und Rechtsextremismus und ob dieser unaufhaltsam sei.

Lehrer und Opfermythos

So gut ich kann, versuche ich alles zu beantworten, moralisiere und agitiere nicht. Wenn ich einmal keine Antwort weiß oder mir nicht sicher bin, dann sage ich es. Ich erfahre immer wieder, dass dies von den Schülern honoriert wird.

Engagierte Lehrer laden mich durchschnittlich viermal im Jahr ein, und ich merke, dass sie bei ihren Schülern das selbstständige Denken fördern und mit der unheilvollen Tradition des Schweigens und Verschweigens gebrochen haben.

Spannend sind oft die Gespräche, die ich mit den Lehrern führe. Einige haben Geschichte studiert, weil in ihrer Familie über die Jahre 1938-1945 geschwiegen wurde. Zum Beispiel: Ein Lehrer, der oft versuchte mit seinem Vater über diese Zeit zu sprechen, stieß auf ein beharrliches Schweigen. Doch als sein Sohn, der gerade seinen Zivildienst absolviert, von einer Tagung in Buchenwald zurückkam und dies erwähnte, sagte sein Großvater unvermutet: “Ich war auch in Buchenwald, aber auf der anderen Seite”. Mehr wollte er nicht sagen. Ein anderer Lehrer erzählt von seinem Vater, der bei der Waffen-SS war. 1970, als Bruno Kreisky Bundeskanzler wurde, schimpfte sein Vater auf “die Juden”, was ihn veranlasste, Geschichte zu studieren. Allein dies zeigt, wie sehr sich Österreich – seit meiner Rückkehr aus der Vertreibung im Herbst 1951 – geändert hat. Ich war damals 23 Jahre jung und staunte, wenn ausnahmsweise jemand sich interessiert zeigte zu erfahren, was ich in der Zeit nach dem “Anschluss” erlebte. Als ich ansetzte etwas darüber zu erzählen, wurde mir einige Mal geantwortet: “Auch wir haben gelitten”, was mich zum Schweigen brachte. Die jüdischen Österreicher wurden Opfer der “ersten Opfer”, wie Helmut Zilk einmal bemerkte, und deswegen mussten Jahrzehnte vorbeigehen, bis ich als Mitglied des Kuratoriums des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes und als alter Mann über diese Zeit öffentlich sprechen konnte.

Alibi-Kampagnen der Regierung

In wenigen Jahren wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die über ihre Erfahrungen während der NS-Herrschaft berichten können, trotzdem nehmen viele Schulen die Chance nicht wahr, noch lebende Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Wahrscheinlich wirken noch die langen Jahre des “Opfermythos” nach, vielleicht will sich auch mancher Lehrer nicht engagieren, denn “man kann ja nie wissen”, wer Österreich in ein paar Jahren regieren wird.

Bundeskanzler Werner Faymann schlug als Reaktion auf einige Vorfälle der letzten Zeit eine “antifaschistische Kampagne” in Schulen vor, die anscheinend als Alibi für eine Politik dienen soll, welche die Botschaft aussendet, dass man werktags weitgehend den Rechtsextremisten entgegenkommt, um sonntags antifaschistische Reden zu halten. Diese Haltung wird von vielen Jugendlichen als pure Heuchelei wahrgenommen. Eltern und Lehrer wissen, dass Erziehung ein kontinuierlicher Prozess ist und Aufklärung und politische Bildung, die von Rechtsextremisten als “Gehirnwäsche” diffamiert werden, nicht durch eine kurzfristige Aktion ersetzt werden können.

* Der Autor flüchtete 1938 mit seinen Eltern nach Ungarn. Er war von 1982 bis 1995 Redakteur des offiziellen Organs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und arbeitet als freier Journalist.

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