Luis Liendo Espinoza: Rezension: erinnern.at: “Ein Mensch ist ein Mensch”. Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was…

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Im Mai 2012 präsentierte der Verein erinnern.at. die Broschüre “Ein Mensch ist ein Mensch”. Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was… Die Broschüre, welche im Auftrag des Unterrichtsministeriums erstellt wurde, soll als Lernheft für Schüler ab der 8. Schulstufe fungieren. In den Lernmaterialien werden kurze Aussagen verschiedener Jugendlicher bzw. ebenso knappe Einführungstexte zu verschiedenen Themen präsentiert. Daran anschließend werden Fragestellungen und Aufgaben formuliert, die in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit diskutiert werden sollen und sich größtenteils auf die Inhalte der Broschüre beziehen.

Erwähnt werden im Lernheft u.a. Rassismus, Antisemitismus, Hass auf Roma, Vorurteile im Allgemeinen, Asylpolitik und Zivilcourage. Positiv hervorzuheben ist, dass Inhalte, welche sonst im Rahmen einer antifaschistischen Aufklärungsarbeit oft vergessen werden (bspw. der Hass auf Roma oder das Ressentiment gegen Israel), in der Broschüre eine Erwähnung finden. Das augenscheinliche Ziel der Broschüre ist es, Gespräch und Diskussion unter Jugendlichen anzuregen. Das ansprechende Layout, die Betonung der Bedeutung der Stimmen der Jugendlichen und die angegebenen Fragestellungen können fraglos dazu beitragen, diesen Diskurs auch tatsächlich umzusetzen. Es wird jedoch auch festgehalten, dass “positive Kontakte ein wichtiger Schritt beim Abbau von Ängsten und Vorurteilen sein können, aber nicht müssen.”(8)

Dennoch bleibt es fraglich, ob Lernmaterialien zur Bekämpfung von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Hass auf Roma unter Jugendlichen sich damit begnügen können, einen Workshop unter Jugendlichen nachzuzeichnen bzw. die Diskussion lediglich anzustoßen. Es ist richtig, dass Jugendliche nicht mit der Masse an Informationen und der Vielfalt an Aspekten dieser Themen abgeschreckt werden sollten. Doch hier sind die sachlichen Anmerkungen zu den einzelnen Inhalten zu kurz, um einer zielgerichteten Diskussion eine  Verankerung zu bieten. Dabei werden in der Broschüre Fragestellungen angesprochen, deren Diskussion als unabdingbarer Bestandteil jeder Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Antisemitismus gelten sollte. So wird im Kapitel Gehorsam kann tödlich sein mit Bezug auf die Erschießungen von Juden im Vernichtungskrieg die paradigmatische Frage der NS-Forschung aufgeworfen, wie es passieren konnte, “dass »einfache Männer« zu Mordmaschinen wurden”.(28) Um solche Fragen zu beantworten, ist der sachliche Input, der sich auf einige Sätze beschränkt, unzureichend und unkonkret. Dazu wären weitere skizzenhafte Ausführungen, die den Jugendlichen zumindest konkrete Anhaltspunkte zur Hand geben, was denn überhaupt unter Massenerschießungen im Nationalsozialismus zu verstehen sei bzw. was für essentielle Fragestellungen durch diese Ereignisse berührt werden, nötig. Hier wäre eine gewisse Konzentration auf elementare Inhalte angeraten.

Lernmaterialien zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind eine dringende Notwendigkeit.  Erinnern.at hat hier wichtige Arbeit geleistet. Doch gibt dieses Lernheft auch die Grenzen der gegenwärtigen Aufklärungsarbeit wieder: Die verbreitete Praxis auf Kosten inhaltlicher Bestimmung eine konsensuale Basis aufrechtzuerhalten bzw. die Vermeidung einer gezielten und inhaltlichen Konfrontation mit diesen Themen. Zwar ist die Rede davon, “auf den Meinungen und Erfahrungen von Jugendlichen aufzubauen”, doch die präsentierten Individuen gleichen Musterexemplaren an Toleranz und Kritikfähigkeit. Es drängt sich der Gedanke auf, wozu den solchen Jugendlichen eine Aufklärungsbroschüre gewidmet werden soll. Zwar werden Konflikte und auch ernsthafte Übergriffe thematisiert, doch die notwendige Konfrontation wird durch das dialogische Konzept, die “Begegnung miteinander”(4), unvermittelt wieder stillgelegt. Der Nahostkonflikt wird bspw. tendenziell nicht als eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen antisemitischen Bewegungen und dem Staat Israel, sondern als religiöse Frage interpretiert:

“Bei unserem Workshop begegneten sich unter anderem jüdische und muslimische Jugendliche. Der Konflikt im Nahen Osten ist eine Geschichte, die beide Seiten trennt.”(35)

Die Kritik des gegenwärtigen Antizionismus wird derart zum Aufruf nach gegenseitiger religiöser Toleranz neutralisiert. Jede Seite hat schließlich ihre “Glaubensbrüder”(34) in diesem Konflikt involviert, womit sich eine Parteinahme vermeintlich von selbst ergibt. So werden die heißen Kartoffeln allein angeschnitten, um sie schnell wieder erkalten zu lassen. Eine zentrale gesellschaftliche Basis von Vorurteilen in Österreich fällt deshalb unter dem Tisch: Migranten sind nicht nur eine unschuldige Minderheit, sondern selbst ein aktives Moment der Verhetzung. Nicht nur Angehörige der sogenannten Mehrheitsgesellschaft oder Rechtsradikale, auch ein nicht unbedeutender Teil der (islamischen) Migranten ist zutiefst antisemitisch und homophob. Migranten selbst hetzen gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe, gegen Roma  oder konstruieren ein spezifisches Österreich-Feindbild, das mit der Kritik des Rassismus in Österreich nichts mehr zu tun hat und tatsächlich selbst an die destruktivsten Traditionen in diesem Land anschließt. Diesen modernen Formen und Konfliktlinien von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wird der multikulturelle Dialog nicht gerecht. 

Luis Liendo Espinoza: Rezension: erinnern.at: “Ein Mensch ist ein Mensch”. Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was…

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Luis Liendo Espinoza


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