Das Helle und das Dunkle in der Paulskirche. Über die Laureaten des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

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Zusammenfassung

Über Einhundert Jahre nach den Ereignissen von 1848 hat die Paulskirche wieder eine wichtige Rolle im demokratischen Prozess unseres Landes eingenommen. Sie ist seit 1950 der Ort, an dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seinen renommierten Friedenspreis verleiht. „Im Friedenspreis wird die Verpflichtung des Buchhandels, mit seiner Arbeit der Völkerverständigung zu dienen, eindrucksvoll sichtbar.“ Dieser Preis hat im Laufe der Jahre erneut helle und dunkle Seiten offenbart, dem Genius loci nicht immer angemessen. Die Reden der ersten Preisträger wie Max Tau, Albert Schweitzer, Romano Guardini, Martin Buber, Theodor Heuss, u.a. bis Karl Dedecius sind über Jahrzehnte oft richtungweisend gewesen. Mit Martin Walser, Navid Kermani kam das Dunkle wieder. Bei Jan und Aleida Assmann offenbarte sich erst später die kulturelle Erosion der Gegenwart.

Abstract

The Protestant St. Paul’s Church in Frankfurt on the Main was the first German freely and publicly elected national assembly, the so-called Frankfurt Parliament, and is the symbol of its strive for democracy and unification. After the Revolution of 1848 in a short period between March 31 and April 3, 1848, it served as a pre-parliament, and from its first meeting on May 18, 1848 until 1849, the deputies worked on the first constitution. Paul’s Church played also an important role in the process of emancipation of Jews in Germany. The majority of the deputies supported the efforts for it. Unfortunately, mainly Prussia and the Austrian Empire opposed this activity, and succeeded to torpedo it. After a couple of uprisings which were all suppressed, the Parliament was dissolved on May 30, 1849. Having been destroyed by bombing in WW2, it was the first building in Frankfurt to be rebuilt, due to its high symbolic function. In 1963, US President John F. Kennedy gave a speech there. Today, it does not serve as a church any longer but is a location for important events, such as the world-famous awarding of the Peace Prize of the German Book Trade during the annual Frankfurt Book Fair since 1950. The list of the laureates is long and imposing, with quite a few Jewish personages among them. The second laureate was Albert Schweitzer (1951), followed by Martin Buber (1953), Hermann Hesse (1955), Thornton Wilder (1957), Nelly Sachs (1965), Ernst Bloch (1967), Yehudi Menuhin (1979), Teddy Kollek (1985) Vaclav Havel (1989), Karl Dedecius (1990), or Amos Oz (1992), etc. But gradually, the prize started to be awarded more frequently to persons of a decisively Leftist position, some of them, like the writer Martin Walser (1998) or the scholars Aleida and Jan Assmann (2018) known for their Antisemitic or pro-BDS attitude. This paper discusses some of the bright and the dark sides of Paul’s Church connected to the Peace Prize.

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Die Paulskirche und die Juden

Die Paulskirche ist die Keimzelle, das Symbol der Freiheit, Einheit und Demokratie auf deutschem Boden. Sie ist gleichzeitig mit der Emanzipationsbewegung der Juden eng verbunden. Gerade heute sollte daran erinnert werden, wenn, im wiedervereinten Deutschland, Juden erneut angegriffen werden – der Überfall auf die Synagoge von Halle ist nur ein Fanal, da die Palette der Judenfeinde hierzulande von ganz Rechts über die radikalen Muslime bis ganz Links reicht. Die Revolution von 1848 war ein wichtiges Ereignis in der deutsch- und europäisch-jüdischen Geschichte, denn die dort erarbeitete Verfassung sah eine vollkommene rechtliche Gleichstellung der Juden vor. Allerdings trat diese Verfassung nie in Kraft und die Emanzipation erlitt einen Rückschlag, auch, weil in einigen Ländern die Gleichberechtigung zurückgezogen wurde. Dennoch setzte diese Verfassung neue Maßstäbe und Grundsätze für spätere Verfassungen, wie die des Deutschen Bundes und somit des später geeinten Reichs, die von den 1848-Regelungen beeinflusst waren. Die Kirche wurde zum Ort konfessionsloser, zivilreligiöser Feierstunden der Bundesrepublik, wo die Verleihungen des Goethe-, später auch des Börne-Preises, und vor allem des seit 1950 verliehenen international renommierten Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Ich werde im Folgenden über Martin Walser zu sprechen kommen, denn er spielt gerade in diesem Zusammenhang eine besonders unrühmliche Rolle in der Paulskirche der Nachkriegszeit, die seit 1948 ja keine Kirche mehr ist, sondern eine politische Stätte des Gedenkens. Dass seit 1950 die alljährliche Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gerade dort stattfindet, ist kein Zufall, denn es geht dabei um Ehrung von Personen, „die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen“ haben.[1] Die Liste vieler illustren Preisträger ist lang, in den späteren Jahren waren anders als 1848 weniger Liberale dabei, dafür vielfach aus dem linken Spektrum und manche ausgesprochen ärgerliche Individuen.

Der erste Preisträger war Albert Schweitzer, der nächste Martin Buber, 1958 Karl Jaspers, 1959 Theodor Heuss, es folgten einige weitere Juden, wie unter anderen Nelly Sachs (1965) oder Ernst Bloch (1967). 1970 erhielt Alexander Mitscherlich den Preis. Sein epochales Buch Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens von 1967 zeichnete das Psychogramm der Bundesrepublik seit der Hitlerzeit. Marion Gräfin Döhnhoff (1971), später Präsidentin des Deutschen Polen Instituts, setzte sich für Verständigung mit Polen ein. Ein Jahr danach wurde der polnisch-jüdische Pädagoge Janusz Korczak posthum geehrt. Es war eine Hommage an den 1942 in Treblinka ermordeten Erzieher, der ihm anvertraute Waisenkinder nicht allein in den Tod zu schicken bereit war, an den Ort des Todes wo auch meine nächsten Verwandten umgebracht wurden. Jahr um Jahr wurde der Preis verliehen: 1989 an Vaclav Havel, einem Symbol des Freiheitswillens der unterjochten Ostblockstaaten; 1990 an den Übersetzer Karl Dedecius, meinen ehemaligen Chef und Mentor, der wie kaum ein zweiter, den Deutschen die polnischen Nachbarn und ehemaligen Feinde nahe brachte.[2] Ähnliche Mittlerfiguren, diesmal im nahöstlichen arabisch-israelischen Friedensprozess, sahen die Preisrichter in den beiden israelischen Schriftstellern Amos Oz (1992) und David Grossman (2010). Doch 1998 wurde Martin Walser ausgezeichnet und sorgte für einen antisemitischen Eklat in der Paulskirche, der erste dieser Art seit der Nationalversammlung.

Dedecius war ein Humanist, dem Nationalismus ablehnend gegenüberstehend, ein konstruktiver Ver- und Mittler, Walser hingegen ist ein Polarisierer, der sich haarscharf am Chauvinismus entlang bewegte und das Gegenteil davon auslöste, was dem Preis innewohnt, nämlich Un-Frieden. Deswegen, um die Wogen zu glätten, wurde wohl im Jahr darauf Fritz Stern ausgewählt, deutsch-jüdischer Historiker und Emigrant, der in den 1960ern mit seiner Studie Kulturpessimismus als politische Gefahr[3] den Aufstieg des NS-Regimes dem Versagen der Eliten anlastete. Auch er war ein Brückenbauer, der 1990 etwa Margaret Thatcher anlässlich der Wiedervereinigung die Angst vor den Deutschen nahm.

Der Image-Schaden für die Paulskirche, den Walser angerichtet hatte, war enorm und kaum mehr aus der Welt zu schaffen. Ich war von 1992 bis 1994 in Frankfurt am Main Persönliche Referentin von Ignatz Bubis als Zentralratspräsidenten und blieb auch nach meinem Wegzug nach Berlin mit ihm in häufigem Kontakt. Die Auseinandersetzung mit Walser hat ihn die Gesundheit gekostet und war Grund seiner resignierten Feststellung am Ende seines Lebens: „ich habe fast nichts erreicht!“ Auf den Skandal um Walser werde ich noch zurückkommen und ebenso zu dem zweiten Eklat, den Navid Kermani als Preisträger 2015 verursachte.

Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zu Gabriel Riesser rückblickend auf das Jahr 1848 einfügen – er möge zeigen, warum Walser, Kermani und das Ehepaar Assmann als problematische Preisträger und Redner in der Paulskirche gelten müssen. In der Frankfurter Nationalversammlung spielte der Jude Gabriel Riesser (ursprünglich Katzenellenbogen, 1806-1863) eine wichtige Rolle. Ihm, der ungetauft blieb, wurde nach dem Jurastudium eine akademische und Beamtenkarriere verwehrt. Allerdings wurde Riesser 1840 durch eine Ausnahmeregelung einer der beiden jüdischen Notare in Hamburg.[4] Riesser, ein wortgewaltiger Verfechter der Gleichberechtigung der Juden, bekam breite Resonanz in den deutschen Landen. Er forderte die „volle rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Unterschied des Glauben“ als wichtige Voraussetzung für das Wohl des Staates. Im März 1848 wurde er Abgeordneter im Frankfurter Vorparlament, dann (vom 18. März 1848 bis 26. Mai 1848 Abgeordneter für das Herzogtum Lauenburg in der Frankfurter Nationalversammlung), wo man ihn in den Verfassungsausschuss und zwei Mal auf kürzere Zeit zum Vizepräsidenten der Versammlung gewählt hatte. In dieser Funktion setzte er sich entscheidend für den § 146 der Paulskirchenverfassung ein: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“

Diese politische Aktivität Riessers wurde erst nach der bleiernen Zeit der Metternich-Ära möglich. Er hat sich für den Liberalismus eingesetzt und bekämpfte die antisemitischen Bestrebungen, die leider auch die Geburt der deutschen Demokratie begleiteten.[5] Es gab auf dem Lande, wie im Odenwald, antijüdische Ausschreitungen[6]. In der Nationalversammlung selbst saßen in der Paulskirche und anschließend in Stuttgart 809 Abgeordnete, davon sieben jüdische (bei 1% der Bevölkerung). Und im Jahre 2006 weigerten sich die Städte Frankfurt und Hamburg, den 200. Geburtstag des großen Demokraten zu feiern.[7] Wir wissen, es war ein langer Weg bis zur Emanzipation der Juden in Deutschland und nach den vielen Einzelschritten und Rückschlägen wurde 1871 schließlich die Gleichstellung der Juden per gesamt-deutschem Staatsgesetz im Kaiserreich erreicht.

Der Preisträger Martin Walser                                                                                                       Doch nun zurück zu Martin Walser. Wie ich 2002 in meinem Aufsatz Tod eines Schrift-stellers. Martin Walser und die Juden schon nachweisen konnte, den Matthias A. Lorenz nicht zitiert, aber bestätigt[8], hat der Autor seit Langem ein „Judenproblem“. Dass er dennoch den Preis erhielt, zeugt entweder von Unkenntnis seines Werks oder zumindest von einer Sympathie für das darin mal offen, mal verklausuliert geäußerte Gedankengut. Die Rede von 1998 basierte auf seinen Gedanken von 1988. Seinen damaligen USA-Aufenthalt brach Walser wegen des dort allgegenwärtigen Themas Nationalsozialismus ab. Das störte ihn:

…am 7.,8., 9. und 10. November berichteten die Zeitungen, die ich las über die Kristallnacht. Dann verschaffte die Jenninger-Rede unserer Schande auch noch am 11. November eine landesweite Erscheinung. Dann also am 13. der Auftakt zur einmaligen und ungeheuren Monumentaldarstellung unserer Schande (gemeint ist nicht das Mahnmal für die Ermordeten Juden Europas, sonst mit diesem Epitheton versehen, sondern eine TV-Serie „War and Remembrance“). Bin ich empfindlich?[9]

Der Schwenk des ehemaligen Flakhelfers Walser von einer linken Position zum Nationalismus hin hat sein Verlag – Suhrkamp –, der 1997 eine Gesamtausgabe publizierte, übersehen, seine Leser haben ihn überlesen und die Preisrichter ignoriert. In einem Interview in der Welt von 1986 klagte Walser über die deutsche Teilung: „Was 1945 durch Strafaktion (er meint durch die Siegermächte) geschah, das soll die deutsche Geschichte jetzt für immer sein […], und das tut mir in jeder Hinsicht weh.“ Walser identifizierte sich im Historikerstreit von 1986 mit Andreas Hillgruber und seine Sicht Deutschlands in der Opferrolle zeugt von der damit einhergehenden Relativierung der deutschen Schuld am Krieg und millionenfachem Mord an europäischen Juden. Gaulands „Vogelschiss“ lässt grüßen.

In der Paulskirche sagte Walser: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“. 120 anwesende Ehrengäste bedachten diese Worte von der „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ mit Beifall, nur Ignatz Bubis, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nicht. Er hörte – wie immer – sehr genau zu und zog die richtige Schlussfolgerung daraus: Walser sei ein geistiger Brandstifter, der in seiner Rede den politisch zulässigen Diskursraum für rechtsradikales Gedankengut geöffnet habe und damit für einen latenten Antisemitismus mit der Täter-Opfer-Umkehr. Der oft im Ungefähren bleibende Geschichtsklitterer Walser lehnte übrigens auch das Holocaust-Mahnmal in Berlin genauso wie Björn Höcke von der AfD als „Monumentalisierung der Schande“ ab, als das Projekt jener, die anderen ihr Gewissen aufzwingen würden. Er insinuiert eine Art – in der Tradition der Paulskirchen-Dankesreden – „kritische Predigt“, die die Deutschen von der Schuld als verjährt freispricht. Das war noch vor dem Erscheinen seines antisemitischen Pamphlets Der Tod eines Kritikers, in dem er mit Marcel Reich-Ranicki und Ignatz Bubis, beide Überlebende der Shoa, abrechnet. Der Walserschen Rede folgte die Debatte mit Bubis, die als „erster Antisemitismusstreit der Berliner Republik“ bezeichnet wurde.[10] In der Debatte verriet sich Walser dahingehend, dass er generell die Zuständigkeit von Juden, sich in ‚deutsche Angelegenheiten einzumischen‘ infrage stellt. Seine Rede gehört zu den dunkelsten in der Geschichte der Paulskirche.

Der Preisträger Navid Kermani

Bei Walser ging es um Antisemitismus ging, der nächste Vorfall hing mit dem wachsenden Einfluss des Islam auf die deutsche Gesellschaft zusammen. Kermani, der weitere problematische Preisträger, hielt 2015 eine Rede, die für erhebliche Irritationen gesorgt hat. Der 1967 in Deutschland als Sohn iranischer Eltern Geborene, ist ein Doppelstaatler, als habilitierter Orientalist und Muslim war er Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Mit vielen Preisen und Auszeichnungen bedacht, war er sogar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch. Allerdings warf ihm etwa der Orientalist Bernd Radtke vor, ein Plagiator zu sein – Kermani schrieb von Hellmut Ritter ab, der 1972 verstarb.[11] Allerdings hat auch das, wie schon bei Walser, die Jury nicht im Geringsten gestört. In seiner Rede trat Kermani „für die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Irak“ eint und appellierte an den Westen, den Krieg in Syrien zu beenden“. Warum er sich diesbezüglich nicht an eine der am Krieg maßgeblich schuldigen Parteien, nämlich an den Iran, dessen Staatsbürgerschaft er innehat, wandte, bleibt sein Geheimnis.                             

Kermani, ein frommer, zum Sufismus tendierender Muslim, ist nach eigenen Worten „in das Christentum verliebt“ – „ich bin eigentlich ein muslimischer Katholik“ – und wirbt für eine spirituelle Beziehung mit Allah. Kermani kritisiert gewissermaßen zugleich die säkulare Ethik des Humanismus, wobei man wissen soll, dass ein Sufi auf seinem irdischen Weg vier Stationen zu meistern versucht, wovon die erste die Sharia ist, das muslimische Gesetz, das über dem Grundgesetz steht und damit unserem demokratischen Rechtsstaatsverständnis widerspricht.[12] Es ist also für alle in der Materie Kundigen, schwer zu akzeptieren, dass dieser Person ausgerechnet dieser Preis an diesem für die deutschen Demokratie so symbolträchtigen Ort verliehen wurde. Als es 2009 um den Hessischen Preis ging, der ihm verwehrt wurde, schrieb Matthias Kamann in der Welt über ihn: „Der muslimische Schriftsteller ist in vielen Texten zum Nahostkonflikt schnell bei der Hand, den Islam als Opfer des Westens darzustellen und dem Westen autoritäre Arroganz zu unterstellen. Kermani argumentiert zuweilen hochtrabend und selbstgerecht.“[13] Das störte die Preisrichter 2015 jedoch keinesfalls.

Wer den Roman von Michel Houllebecq, Die Unterwerfung, gelesen hat, wird die Einwände verstehen. Seine Rede in der säkularen Paulskirche beendete der frischgebackene Preisträger mit einem muslimischen Gebet. Dazu schrieb Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung:

Warum Kermanis Aufforderung zum Gebet ein unerträglicher Übergriff war. Alle zeigten sich gerührt, als Navid Kermani bei seiner Friedenspreis-Rede in der Paulskirche zum Gebet aufrief. Doch damit droht er sich an das anzugleichen, was er dem radikalen Islam vorwirft. Die säkulare Festgemeinde möge sich dazu erheben, schlug Kermani vor, und alle taten es. Der Redner wurde zum Vorbeter, erhob die Hände zur Adorationsgeste, und das Publikum sollte im Stillen für verfolgte Christen beten und überhaupt für ‚die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks‘. So endete die diesjährige Buch-Messe. Nimmt man aber etwas mehr Abstand zu dem Ereignis ein, liest man die Rede noch einmal nach oder schaut sie sich in der ZDF-Mediathek an – dann wird bald deutlich, dass das, was Navid Kermani da am Sonntag veranstaltet hat, ein unerträglicher Übergriff war. […] Der Übergriff nun besteht in dem Wechsel ins Register ‚Gebet‘. Zwar erlaubte Navid Kermani den Nicht-religiösen im Publikum großzügig, statt Gebeten nur ‚Wünsche‘ zu entsenden; und seine Bitte, nicht zu applaudieren, wurde nach der stillen Minute dann doch übergangen. Aber trotzdem entkam ja keiner der kollektiven Andacht. Hingegen waren selbst jene Theologen und religiösen Denker, die in der Nachkriegszeit den Friedenspreis entgegengenommen haben, niemals so weit gegangen, von der Rede ins Gebet zu wechseln“. Kermani widersprach hier dem Wunsch, den der Friedenspreisträger Jürgen Habermas 2001 an derselben Stelle an gläubige Bürger richtete, nämlich dass sie in der Demokratie ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen.[14]

Anzumerken wäre noch, dass wenn ein Muslim ein Gebet an einem bestimmten Ort spricht, dieser Ort zu einer Moschee wird. Hierin besteht m. E. der eigentliche Übergriff und das Mitmachen der Anwesenden war ein Zeichen der Unterwerfung – eine weitere dunkle Stunde der Paulskirche.

Der Preisträger Karl Dedecius

Wenn also manche Preisträger Zwietracht säen, ist es ein Lichtblick, jemanden zu erleben, der Menschen und Völker miteinander verbindet. Die gab es unter den Preisträgern in der Paulskirche und ich möchte dem Zuvorbeklagten entgegensetzen, was Karl Dedecius in seiner Rede sagte, als er – und ich war dabei – im Jahre 1990, als die Wiedervereinigung noch jung war und symbolisch die Brückenfunktion des Preisträgers unterstrich. Heinrich Olschowsky, ein DDR-Polonist von der Humboldtuniversität, hielt die Laudatio unter dem Titel: „…er bringt das Eine/zum Anderen“ und er sagte: „Was Deutsche in Ost und West voneinander fernhielt, wird im friedlichen Einvernehmen mit den Nachbarn überwunden […] Ich möchte im heutigen Tag ein Sinnbild für diese Koinzidenz der Ereignisse erkennen.“ Dedecius selbst sprach über „Das Buch als Wille und Vorstellung“, ja, nach Schopenhauer, vor allem aber über die friedensschaffende Funktion der Literatur und ihrer Übersetzung, dem Orpheus gleich, von dem es in Horazens Ars poetica heisst: „Als die Menschen in Wäldern noch hausten, entwöhnte sie Orpheus, der heilige Dolmetsch der Götter, von Mordlust und ehrlosem Leben.“ Leider aber, schaute sich Orpheus um nach Eurydike im Hades und scheiterte. Dedecius, dem der Krieg die Jugend raubte, denn er musste als deutscher Abiturient aus Lodz in die Wehrmacht einrücken und nach der Schlacht von Stalingrad auch noch die sowjetische Gefangenschaft überleben. Er verabscheute den Krieg und sann dennoch nicht auf Rache, sondern suchte die Versöhnung. Er sagte: „es ist bemerkenswert, dass zwei unserer ältesten Kulturen, Literaturen, Glaubensvorstellungen – die jüdische und die griechische – uns ähnliche Mahnbilder und Lehren überliefern. Ähnlich wie Orpheus scheiterte Lots Frau, die nicht wie ihr Mann unverwandt vorwärts ging und in die Zukunft blickte, sondern die sich nach dem verruchten Sodom und Gomorrah umsah und deshalb zur leblosen Schmerzsäule aus Salz erstarrte. Eine Warnung für alle, die Tote und Verluste zu beklagen haben.“

Die Preisträger von 2018 Aleida und Jan Assmann

Vielleicht sollten wir genauer auf die antiken Mythologien hören, um keine falschen Schritte und Schlüsse zu ziehen. Bevor ich zum Schluss komme, noch ein letztes und besonders unerfreuliches Beispiel dessen anführe, wie der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zum ideologischen Kampfmittel und damit der Paulskirche einen weiteren Imageschaden hinzugefügt wurde. Vielfach ausgezeichnet, gehören Jan Assmann, Ägyptologe, und seine Frau Aleida, Literaturwissenschaftlerin, zu den intellektuellen Stimmen in Deutschland. Als „Kulturwissenschaftler“ apostrophiert, haben sie zahlreiche Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis der Deutschen verfasst. Sie sind der Generation der 68er zugehörig, engagierten sich für das Mahnmal für die Ermordeten Juden Europas in Berlin, weil, so Aleida Assmann in einem Interview,[15] für diese Generation „das Holocaust-Gedenken so etwas wie eine historische Mission“ gewesen sei. So weit, so gut. Allerdings hat sich das Paar, insbesondere Frau Assmann, durch eine zunehmende und ausgeprägte Weigerung ausgezeichnet, das Recht der Juden in dem jüdischen Staat ihre Politik wie es ihnen gefällt, zu gestalten, anzuerkennen, sie befürworten die gegen den jüdischen Staat gerichtete BDS-Bewegung und es ist im Laufe der sogenannten Affäre Achille Mbembe, der auf der Ruhrtriennale 2020 eine Eröffnungsrede halten sollte, besonders virulent geworden.

Mmembes geplanter Auftritt wurde durch die Corona-bedingte Annullierung verhindert. Zuvor gab es von vielen Seiten Proteste dagegen. Mbembe, ein kamerunischer Historiker und Kolonialismusforscher, ist bekannt, Israelgegner und BDS-Unterstützer und damit als Redner auf einem mit öffentlichen Geldern finanzierten Festival nicht tragbar. Der Bundestagsbeschluß zu BDS war der rechtliche Rahmen für die Zurückweisung von Mbembes Thesen, wonach Israel ein kolonialistischer verbrecherischer Mörder- und  Apartheid-Staat sei, den es weltweit zu isolieren gilt.[16] Mbembes Aufsatz von 1992 betitelt „Israel, Les Juifs et nous“, geschrieben nach einem kurzen Israelbesuch auf Einladung der Hebräischen Universität, ist der Beginn seiner verzerrten Wahrnehmung des jüdischen Staates als ein grausames kolonialistisches Gebilde und seines seitherigen Kampfes gegen ebenjenen.[17] 2015 verstieg sich Mbembe gar, in seinem kurzen Vorwort zu dem Buch Apartheid Israel. The Politics of an Analogy von Jon Soske und Sean Jacobs, Chicago Ill. 2015, S. viii zu schreiben: “The occupation of Palestine is the biggest moral scandal of our times, one of the most dehumanizing ordeals of the century we have just entered, and the biggest act of cowardice of the last half-century. And since all they are willing to offer is a fight to the finish, since what they are willing to do is to go all the way – carnage, destruction, incremental extermination – the time has come for global isolation.”

An den politically correcten Reden der beiden Preisträger Assmann und Assmann in der Paulskirche ist formell nichts auszusetzen – gern gehörte Schlagwörter wie „Solidarität“, „Toleranz“, „Mitleid mit den Flüchtlingen“ oder Kritik and der „neoliberalen Freiheit für die Bewegung von Kapitalgütern und Rohstoffen“, während Menschen im Mittelmeer ertrinken und von uns ihrem Schicksal überlassen werden“, wurden mit Beifall quittiert. Man ist ja, unter sich wie bei Walser. Der Jurist und Journalist Stephan Detjen, der im Stiftungsrat für den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels sitzt und eine führende Position beim Deutschlandfunk innehatte und dort immer noch Einfluss ausübt,[18] hat in der Mbembe-Debatte – wie Aleida Assmann – die gleiche Position bezogen: Pro Mbembe, gegen seine Kritiker und gegen den Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, Felix Klein.[19] Aleida Assmann hat einen Offenen Brief von Mbembe-Unterstützern, die sich als Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler geben, mit unterschrieben, der Mbembe gegen seine Kritiker in Schutz nimmt. Sie verteidigte ihre Stellungnahme für ihn, indem sie sie ihn als ihren Verbündeten in der, wie sie meint „deutschen Identitätsdebatte“ darstellte. Sie, die vorgab, die deutsche „Erinnerungskultur“ zu verkörpern, wirft nun und endlich, so verstehe ich ihr Votum, diese Last der deutschen Schuld mit seiner Hilfe von den Schultern: „Achille Mbembe kann uns dabei helfen, den Blick auf den Holocaust und die deutsche Identität zu erweitern. Dafür brauchen wir einen Antisemitismusbegriff, der uns nicht trennt, sondern zusammenführt und stärkt im entschlossenen Kampf gegen Judenhass, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie“.[20] Nun haben wir es also: der von Ayatollah Khomeini erfundene Begriff der Islamophobie wird mit dem „Zivilisationsbruch“ der Shoah, des organisierten Massenmordes an Millionen Juden verglichen. Diesen Vergleich fordert ja Aleida Assmann in dieser Debatte ebenfalls. Wie unqualifiziert solche relativierenden Aussagen sind (was A. Assmann bestreitet), die von dem Gegenstand ablenken, um den es bei Mbembe ging, nämlich seine Unterstützung der gegen den Staat Israel gerichteten Kampagne BDS, zeigte die wohltuende Analyse von Jürgen Kaube in der FAZ.[21] Er erinnerte an die im Jahre 2018 von Mbembe erzwungene Ausladung einer israelischen Wissenschaftlerin von einer wissenschaftlichen Konferenz, an der er erst nach ihrem Rauswurf teilgenommen hat. Dagegen haben Assmann und co. nicht protestiert.  Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Doch die Frage stellt sich, ob die Jury die Preisträger nicht eher nach ihrer politischen Orientierung denn nach ihrer Leistung auswählt. Jedenfalls stehen die Stellungsnahmen von Aleida Assmann pro BDS im Gegensatz zu ihrem proklamierten Eintreten für die toten Juden, denn wer zugleich gegen den jüdischen Staat ist, der just den überlebenden Juden als Zuflucht diente und nun ein selbstbestimmtes Leben in ihrem angestammten Land ermöglicht, dessen lautere Motive dürfen angezweifelt werden. In der Welt nannte Jeremy Adler das Ehepaar Assmann daher „Relativierer des Holocaust“. [22]

So hat Frau Assmann in der FAZ vom 8. Juli 2020 auch eine Geschichte skandalisiert, diese zum Angriff auf den Staat Israel nutzend, wonach eine „palästinensische Familie“ in Jerusalem versucht hat, sich aufgrund einer gefälschten Urkunde ein leerstehendes Haus anzueignen. Assmann aber fabuliert einen „Entzug des Wohnrechts“ und einen „bösartigen Akt“ herbei, ohne den Kasus und das dafür verantwortliche osmanische Recht zu kennen. Eine deutsche, angeblich Gerechtigkeit fordernde „Intellektuelle“, schiebt hier skrupellos die Schuld einseitig den Juden zu. Sie kann und will diese nicht beweinen, weil sie nun mal lebendig sind und den eigenen Staat – o horribile dictu? – nach demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln zu führen. Somit gehört auch die Preisverleihung an sie nicht zu den leuchtenden Momenten der Paulskirche.

Die Nationalversammlung scheiterte am Ende, aber ihre Saat trägt heute unseren Staat! Wir sollten darauf achten, dass in Zukunft problematische Preisträger nicht zum Scheitern der Idee führen, die hinter diesem Preis an diesem Ort steht und noch zum Licht der Paulskirche beiträgt.

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Literaturverzeichnis

Jeremy Adler, „Die Fehler der Gedächtnisklitterer“, in: Welt ( 22.06.2020)

https:// www.welt.de/kultur/plus209810367/Aleida-und-Jan-Assmann-Relativierer-des-Holocaust.html

Jan Assmann, Moses der Ägypter: Entzifferung einer Gedächtnisspur, Hanser München, 1998

Gerald Beyrodt,https://www.deutschlandfunkkultur.de/zur-causa-mbembe-antisemiten-sind-immer-noch-die-anderen.1079.de.html?dram:article_id=475841 ( 01.05.2020)

Stefan Braun, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/epochenschwelle-zur-moderne/, 05.03.2018 (12.03.2019)

Karl Doering, „Niemand kann zwei Herren dienen“, in: FAZ 23.09.2010.

https://geboren.am/liste/friedenspreis-des-deutschen-buchhandels?gclid=EAIaIQobChMI tyuoaqh5QIVA-R3Ch1LLwkhEAMYASAAEgKIdvD_BwE (Zugriff 02.05.2019)

Elvira Grözinger, „Zwischen den Welten. Die polnisch-jüdischen Autoren in der Übertragung von Karl Dedecius“, in: Oderübersetzen 8-9, 2018, (29.10.1918) S. 16-41.

Elvira Grözinger,“Tod eines Schriftstellers. Martin Walser und die Juden“, in: Frankfurter Jüdische Nachrichten, 2002, https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/697/file/Tod_eines_Schriftstellers.pdf

Tobias Jaecker, Judenemanzipation und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, 30.03.2002 https://www.jaecker.com/2002/03/judenemanzipation-und-antisemitismus-im-19-jahrhundert/

https://www.jaecker.com/2002/03/judenemanzipation-und-antisemitismus-im-19-jahrhundert/ (Zugriff 01.05.2019)

Matthias Kamann, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article6074586/Die-Kritik-an-Kermani-greift-zu-kurz.html (Zugriff 17.5.2019)

Jürgen Kaube, „Alles in einem Topf. Vorwürfe gegen Achille Mbembe“, in: FAZ 20.04.20.

Tobias Kaufmann, https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/streit-am-geburtstag/ 06.04.2006 (Zugriff 12.03.2019)

Matthias A. Lorenz „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Metzler Stuttgart, Weimar 2005.

Alexander Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Piper 1967.

Achille Mbembe, Vorwort zu John Soske and Sean Jacobs, Apartheid Israel. The Politics of Analogy, Haymarket Books Chicago, 2015.

Alan Posener, „Der gute Herr Detjen und der böse Herr Klein“  (Zugriff 24.05.2020)

https://starke-meinungen.de/blog/2020/05/24/der-gute-herr-detjen-und-der-finstere-herr-klein/

Rainer Postel, „Gabriel Riesser (1806-1863)“, in: Rainer Postel, Helmut Stubbe-da Luz, Die Notare, Hrsg. vom Verein für Hamburgische Geschichte Band 17, Edition Temmen 2001, S. 75-134.

Bernd Radtke und John O’Kane, „Über wissenschaftliche Redlichkeit“, in: Zeitschrift der Morgenländischen Gesellschaft, Band 159, Heft 1, 2009, zit. n. https://www.eussner.net/artikel_2009-05-16­_18-08-37.html (Zugriff 25.04.2019)

Johan Schloemann, „Warum Kermanis Aufforderung zum Gebet ein unerträglicher Übergriff war“, in: Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/kultur/oeffentliches-beten-so-geh-in-dein-kaemmerlein-1.2699166, 20. Oktober 2015, 11:59 Uhr Dankesrede von Navid Kermani.

Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Alfred Scherz Verlag, Bern Stuttgart, Wien 1963.

Thomas Thiel und Michael Hanfeld, „Es ist entsetzlich, wie in Deutschland gegen Juden gehetzt wird“, in: FAZ 16.05.2021 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/interview-mit-dem-antisemitismusbeauftragten-felix-klein-17343792.html

Eva Thöne, „Ein anderes Erinnern. Friedenspreis für Jan und Aleida Assmann“, in: Der Spiegel, 12.06.2018.

Thomas Weber, „Mbembe-Debatte. Opfer werden zu Verfolgern“, in: Faz.net 09.05.2020.

[1] – Quelle: https://geboren.am/liste/friedenspreis-des-deutschen-buchhandels?gclid=EAIaIQobChMI tyuoaqh5QIVA-R3Ch1LLwkhEAMYASAAEgKIdvD_BwE (Zugriff 2. Mai 2019)

[2] Elvira Grözinger, Zwischen den Welten. Die polnisch-jüdischen Autoren in der Übertragung von Karl Dedecius in: Oderübersetzen 8-9, 2018, (29.10.1918) S. 16-41.

[3] Untertitel: Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Deutschland, Alfred Scherz Verlag, Bern Stuttgart, Wien 1963. Dargestellt wird anhand von drei exemplarischen Figuren konservativer Kulturkritik – Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck -, wie eine ganze Jugend in ihrer Verzweiflung mobilisiert wurde gegen den “Liberalismus als Erzfeind”.

[4] Rainer Postel, Gabriel Riesser (1806-1863), in: Rainer Postel, Helmut Stubbe-da Luz, Die Notare, Hrsg. vom Verein für Hamburgische Geschichte Band 17, Edition Temmen 2001, S. 75-134.

[5] Die Judenemanzipation wurde zu einer zentralen politischen Streitfrage des Vormärz. Die Ablehnungsfront verlief quer durch die traditionellen Parteilager: Neben konservativen Gegnern der Emanzipation wie dem Berliner Historiker Friedrich Rühs (1779-1820), der die Emanzipationsforderung 1816 aufgrund der von ihm postulierten „germanischen“ und christlichen Elemente des deutschen Nationalstaates ablehnte, gab es auch national-liberale Judenfeinde wie Ernst Moritz Arndt (1769-1860), der bereits 1814 der Meinung war, dass die Juden einem „verdorbenen und entartetes Volk“ angehörten und sich deshalb nicht mit dem „germanischen Stamm“ vermischen dürften. Für den Jenenser Philosophieprofessor Jacob Friedrich Fries (1773-1843) waren die Juden ebenfalls als fremdes Volk und er rief sogar offen zu ihrer Vertreibung und Vernichtung auf: Die Juden müssten „mit Stumpf und Stiel“ ausgerottet werden. Traditionell-christliche Vorurteile vermischten sich immer stärker mit „modernen“ rassistischen Argumenten. So bezeichnete der Advokat Hartwig Hundt alias v. Hundt-Radowsky (1759-1835) die Juden als „Christusmörder“, „Brunnenvergifter“ und „Ritualmörder“, deren „Volkscharakter“ dem der „Zigeuner“ gleiche. Vgl. https://www.jaecker.com/2002/03/judenemanzipation-und-antisemitismus-im-19-jahrhundert/

[6] Stefan Braun, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/epochenschwelle-zur-moderne/, 05.03.2018 (Zugriff 12.03.2019)

[7] Tobias Kaufmann, https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/streit-am-geburtstag/ 06.04.2006 (Zugriff 12.03.2019)

[8]Matthias A. Lorenz „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Metzler 2005.

[9] Aufsatz Reise ins Leben von 1988, zit. n. Lorenz, S. 438.

[10] Der als solcher bekannte Antisemitismusstreit war der Treitschkestreit oder Treitschkiade der „Berliner Antisemitismusstreit“ (so bekannt seit Walter Boehlichs Dokumentation von 1965) knapp 120 Jahre zuvor – eine öffentliche Debatte von 1879 bis 1881 im Kaiserreich über den Einfluss des Judentums, die so genannte “Judenfrage. Die Berliner Bewegung um Adolf Stöcker forderte die Begrenzung der Judenemanzipation und Berufsverbote und eine im August 1880 gestartete Petition, die Juden von allen hohen Staatsämtern auszuschließen und eine angebliche jüdische Einwanderung zu stoppen, was auf breite Zustimmung stieß. Die damalige Debatte um Überfremdung und nationale Leitkultur ist bedrückend aktuell.

[11] Bernd Radtke, zusammen mit John O’Kane Herausgeber einer englischen Übersetzung des Fariduddin Attar, kritisiert die wissenschaftliche Arbeit des Navid Kermani, Der Schrecken Gottes (2011). Der Text ist inzwischen nicht mehr online; man findet ihn im Band 159, Heft 1, 2009, der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. (16) Die folgenden Zitate stammen aus dem Artikel von Bernd Radtke Über wissenschaftliche Redlichkeit: „Das Ergebnis meiner Untersuchung lautet: Fast das gesamte Material aus dem Musibatnama und anderer Literatur, das K. (Navid Kermani) für seine Darstellung verwendet, findet sich in Ritters Meer der Seele. Zitiert nach: https://www.eussner.net/artikel_2009-05-16­_18-08-37.html

[12] Karl Doering, „Niemand kann zwei Herren dienen“ in:  FAZ 23.09.2010: „Islam und Grundgesetz stehen zueinander im schroffen Gegensatz.“

[13] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article6074586/Die-Kritik-an-Kermani-greift-zu-kurz.html

[14] Warum Kermanis Aufforderung zum Gebet ein unerträglicher Übergriff war, in: https://www.sueddeutsche.de/kultur/oeffentliches-beten-so-geh-in-dein-kaemmerlein-1.2699166, 20. Oktober 2015, 11:59 Uhr Dankesrede von Navid Kermani.

[15] Vgl. Eva Thöne, Ein anderes Erinnern. Friedenspreis für Jan und Aleida Assmann, in: Der Spiegel, 12.06.2018.

[16] Vgl. auch: Gerald Beyrodt,https://www.deutschlandfunkkultur.de/zur-causa-mbembe-antisemiten-sind-immer-noch-die-anderen.1079.de.html?dram:article_id=475841. Mbembes Meinungen zu Israel sind auch in der Zeitschrift Radical Philosophy nachzulesen. Man muss es allerdings auch tun, bevor man ihn verteidigt. In einem Gespräch mit Journalisten haben jedoch seine Apologetinnen Susan Naiman und Aleida Assmann zugegeben, ihn nicht ausgiebig gelesen noch ganz verstanden zu haben.

[17] Thomas Weber, „Mbembe-Debatte. Opfer werden zu Verfolgern“, in: Faz.net 09.05.2020.

[18] Alan Posener, https://starke-meinungen.de/blog/2020/05/24/der-gute-herr-detjen-und-der-finstere-herr-klein/

[19] https://www.deutschlandfunkkultur.de/streitgespraech-mbembe-und-der-antisemitismus-vorwurf.2950.de.html?dram:article_id=477439 ; https://www.deutschlandfunkkultur.de/aleida-assmann-und-susan-neiman-zur-causa-mbembe-die-welt.974.de.html?dram:article_id=475512: Das Gespräch wird dort so zusammengefasst: „In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte hält Aleida Assmann das ‚Instrument des Vergleichens‘ für unverzichtbar. ‚Wir müssen vergleichen können‘, sagt Assmann, wir dürfen nicht gleichsetzen.‘ Felix Klein machte in seiner Kritik an Mbembe geltend, die Einzigartigkeit des Holocaust‘ sei ‚auch ein wichtiges Narrativ für die Erinnerungskultur in Deutschland‘. Klein berief sich auf den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck: „Der Holocaust und die Auseinandersetzung damit gehören zur deutschen Identität.“ Inzwischen sei die deutsche Erinnerungskultur, die in den letzten Jahrzehnten aus dieser Auseinandersetzung erwuchs, zum Teil einer transnationalen Erinnerungsgemeinschaft geworden, sagt Aleida Assmann. Mit der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) hat sie auch einen institutionellen Rahmen gefunden. Die Einzigartigkeit des Holocaust sei dort eine allgemein geteilte Grundüberzeugung, so Assmann. Fragen der historischen Vergleichbarkeit stellten sich heute jedoch schon vor dem Horizont postkolonialer Perspektiven neu.

[20] Ndr.de 14.05.2020.

[21] 20.04.2020, Faz.net.

[22] https:// www.welt.de/kultur/plus209810367/Aleida-und-Jan-Assmann-Relativierer-des-Holocaust.html (22.06.2020)

Das Helle und das Dunkle in der Paulskirche. Über die Laureaten des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

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AUTHOR

Elvira Grözinger

Born 1947 in Poland as child of Holocaust survivors, grew up in Israel. Received a B. A. from the Hebrew University Jerusalem (English and French Literatures, Jewish History, History of Arts). Since 1967 in Germany –  Translators’ Diploma from the University of Heidelberg, studied then German Literature and Jewish Studies in Frankfurt on the Main. Doctorate in General and Comparative Literature from the Freie Universitaet Berlin. Worked as Lecturer in Literature and Scientific Researcher at Universities and academic Institutes in Frankfurt, Darmstadt, Potsdam and Berlin, now retired. As a long time WIZO-member she was for many years on the boards in Frankfurt and Berlin, and on the German Presidential Board. In 2007 she co-founded the German Section of SPME, and had been elected as its Vice President. Since February 2017 she is the President of the SPME-Germany. As publicist she gives lectures and publishes scientific and press articles. Author of 9 books, mainly on Jewish culture and literature and of over 200 scholarly articles and reviews.

Elvira Groezinger is married to Prof. em. of Religious and Jewish Studies, Karl E. Groezinger, affiliated Professor of the University of Haifa, has one married daughter who is a dermatologist, and two grandsons.


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