Vera Altrock: Forschung Sind Gefühle erlaubt? Ich ringe mit der Fassung

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Wie fühlt jemand, der täglich mit der Geschichte der Juden in Deutschland befasst ist? Empfindet er Schuld oder Wut, wird er traurig? Oder lässt die Thematik ihn kalt? Ein Historiker stellt sich der Gewissensfrage.

Der Weg zum “Institut für die Geschichte der deutschen Juden” führt vorbei am Rolf-Liebermann-Studio des NDR an der Oberstraße, einst Gebetsstätte der jüdischen Tempelgemeinde. Die Stolpersteine an der Isestraße sind in ihn eingelassen. Weiter geht es durch den Kleinen Kielort mit den vielen Wohnstiften, die nach 1939 als “Judenhäuser” zweckentfremdet wurden. Im Gepäck eine große Frage: Wie schafft man es als Wissenschaftler, objektiv mit diesem Teil der Geschichte umzugehen? Beantworten soll sie Dr. Andreas Brämer, stellvertretender Direktor des Instituts am Rothenbaum.

Er hat eine Biografie über den Rabbiner Joseph Carlebach geschrieben, den letzten amtierenden jüdischen Geistlichen in Hamburg, der 1942 mit seiner Familie und einem Teil seiner Gemeinde nach Riga deportiert und dort im Vernichtungslager umgebracht wurde. Brämer hat mit dem einzigen überlebenden Sohn Julius an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg zusammengearbeitet und steht mit dessen Tochter Miriam Gillis-Carlebach in Kontakt, die an der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv ein Archiv mit den Schriften und Briefen ihres Vaters aufgebaut hat. Er ist eng mit der Familiengeschichte vertraut. Wie stellt er den für die Forschung nötigen Abstand zu dem Thema her? “Beim Lesen und Schreiben über Geschichte gelingt es mir, Distanz zu wahren. Die wird jedoch aufgehoben in meinen öffentlichen Vorträgen: Wenn es dann um Deportation und Ermordung von Juden geht, ringe ich zuweilen mit der Fassung”, sagt der Wissenschaftler. “Eine reflektierte Empathie ist für mich aber ohnehin Grundvoraussetzung für Geschichtsforschung”, betont er. Wissenschaftliche Objektivität dürfe nicht ausschließen, dass die Dimension der Moral zur Sprache komme. Dennoch: “Die jüdische Geschichte beschränkt sich nicht auf die Verfolgungen während der NS-Zeit.” Aufgabe des Instituts sei es deshalb, der Öffentlichkeit ein Bild von der Vielfalt jüdischen Lebens in Hamburg und in Deutschland in den verschiedenen Jahrhunderten zu vermitteln. “Dabei sollen Jüdinnen und Juden stets auch als handelnde Personen begriffen werden.”

Über die kulturell, religiös und wirtschaftlich aktive Gemeinde in Hamburg, die im frühen 20. Jahrhundert mehr als 20 000 Mitglieder hatte, forscht Andreas Brämer besonders intensiv. In diesen Bereichen gäbe es noch unglaublich viel zu tun, und die Quellenlage im Staatsarchiv sei erfreulicherweise sehr gut. Heute zählt die jüdische Gemeinde wieder mehr als 3000 Mitglieder. Wie viele Jüdinnen und Juden insgesamt in Hamburg wohnen, ist jedoch nicht genau erfasst, denn nicht alle von ihnen sind auch Gemeindemitglieder. Während sich das jüdische Leben vor 1933 hauptsächlich westlich der Alster abspielte, sind die Wohnorte heute über die ganze Stadt verteilt, sodass viele Gläubige einen weiten Weg auf sich nehmen müssen, wenn sie die Synagoge an der Hohen Weide besuchen wollen. Kein Mitglied der Carlebach-Familie ist je auf Dauer nach Hamburg oder Deutschland zurückgekehrt, die Angehörigen leben in England, in Amerika oder in Israel.

Dass sich rund um den Grindel wieder jüdische Kultur entwickle, freut Andreas Brämer, der häufig mit seinen Studenten Führungen durch das Viertel unternimmt. “Es ist zwar nicht selbstverständlich. Aber für mich gehört die Gemeinde zur religiösen Vielfalt einer weltoffenen Metropole.”

Am Joseph-Carlebach-Platz, wo noch vor dem Zweiten Weltkrieg die jüdisch-orthodoxe Bornplatzsynagoge stand, könne man Spuren einer in unsäglichem Leid untergegangenen jüdischen Vergangenheit entdecken, aber auch Hinweise darauf finden, dass etwas Neues im Entstehen sei, sagt Andreas Brämer. “Hier ist man mittendrin, kann die Schule sehen, die jetzt wieder als Zentrum der Synagogengemeinde genutzt wird, hat die Kammerspiele in der Nachbarschaft, den ehemaligen Grindelfriedhof, aber auch das Deportierten-Denkmal an der Moorweide. Vor Kurzem ist ein Café hinzugekommen, das Veranstaltungen zur jüdischen Kultur organisiert.” Hier, wo die Vergangenheit auf die Zukunft trifft, geht Geschichte zu Herzen. Und die Distanz ist fern.

erschienen am 17. Mai 2008

Vera Altrock: Forschung Sind Gefühle erlaubt? Ich ringe mit der Fassung

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