Richard Herzinger: Europa lässt sich von den Judenhassern täuschen

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Der militante Judenhass in Europa hat nur die Färbung gewechselt, nicht die mörderische Substanz. Die Gewalttäter gerieren sich als Opfer des “Zionismus”.

Europa in der Krise – wenn davon die Rede ist, sind Probleme wie überschuldete EU-Staaten und die gefährdete Zukunft des Euro gemeint. Doch es knirscht nicht nur im finanziellen und wirtschaftlichen Gefüge des Kontinents. Schleichend erodiert auch das moralische Grundgerüst europäischer Demokratien. Und das nicht nur, weil sich die EU als unfähig erweist, Mitgliedsstaaten wie Ungarn zur Einhaltung essenzieller gemeinsamer Prinzipien zu bewegen.

Die Berichte aus den Niederlanden, wo sich Juden, die – etwa weil sie eine Kippa tragen -, als solche zu erkennen sind, in der Metropole Amsterdam kaum noch auf die Straße trauen und jüdische Gottesdienste zum Teil nicht mehr in der Synagoge, sondern in unauffälligeren Privathäusern abgehalten werden, um Angriffen arabisch- und türkischstämmiger Jugendlicher zu entgehen, haben es auf keine Titelseite einer deutschen Zeitung und nicht unter die Topmeldungen der TV-Nachrichten geschafft.

Antisemitismus nicht nur auf die Niederlande begrenzt

Und das, obwohl der ehemalige niederländische EU-Kommissar Frits Bolkenstein mit der Aussage provozierte, „orthodoxe Juden“ hätten in den Niederlanden keine Zukunft mehr und täten besser daran, „in die USA oder nach Israel“ zu emigrieren. Diese Aussage des Politikers war freilich wohl eher ein Ausbruch von resignativem Sarkasmus, in den sich eine Spur Hoffnung mischte, in der demokratischen Öffentlichkeit Europas doch noch einen Aufschrei auslösen zu können.

Denn dass sich Juden im Herzen des liberalen Westeuropas nicht mehr sicher fühlen können, müsste für die europäischen Demokratien, die den Schwur „Nie wieder!“ und die Maxime: „Wehret den Anfängen!“ zu ihrer Staatsräson gemacht haben, eigentlich ein äußerstes, existenzielles Alarmzeichen sein. Zumal die Realität, dass Juden auf der Straße, in Geschäften und an Schulen angepöbelt, beleidigt, bedroht und gewaltsam attackiert werden, nur weil sie Juden sind, keineswegs auf die Niederlande begrenzt ist.

Judenhass wird aus den islamischen Herkunftsländern importiert

Im schwedischen Malmö etwa hatten die alltäglichen Drangsalierungen bereits im vergangenen Frühjahr solche Ausmaße angenommen, dass der Großteil der jüdischen Einwohner entweder aus der Stadt geflüchtet oder ernsthaft zu Wegzug und Auswanderung entschlossen war. Ähnliches ist aus Dänemark und Norwegen bekannt, wo eine aufsehenerregende Fernsehreportage von einer „notorischen Anprangerung von Juden“ vor allem an den Schulen zu berichtete, die „von Witzen bis hin zu offenen Todesdrohungen reichen“.

Derartige Angriffe werden überwiegend von jugendlichen Migranten aus muslimischen Ländern ausgeführt, die ihren Judenhass aus ihren Herkunftsländern importieren. Angeheizt wird er durch die laufende eliminatorische Hasspropaganda gegen Israel, dessen vermeintliche Untaten sie ohne Umschweife mit „den Juden“ identifiziert.

Rechtsextremer Antisemitismus hat einen Zuwachs erfahren

An den jüdischen Bürgern europäischer Länder reagieren junge Muslime ihre Gewaltphantasien gegen den verhassten „Zionismus“ ab, die von arabischer, türkischer und iranischer Propaganda oder Satellitensender oder durch islamistische Propagandisten vor Ort verstärkt werden. Der „traditionelle“ rechtsextreme Antisemitismus, der als Bodensatz in ganz Europa präsent, durch seine unmittelbare Nähe zum Nationalsozialismus jedoch gesellschaftlich verpönt ist, hat damit einen unverhofften Zuwachs erfahren.

Dabei sind die Rotten fanatisierter muslimischer Jugendlicher, die sich beim Terrorisieren jüdischer Bürger hervortun, nicht einmal das eigentliche Problem. Unter den in Europa lebenden Muslimen machen sie nur eine kleine Minderheit aus. Und der überwältigenden Mehrheit von Niederländer, Schweden, Norwegern und anderen Europäern dürfte militanter Antisemitismus nach wie vor zutiefst zuwider sein.

Aggressoren gerieren sich als Opfer des “Zionismus”

Umso mehr bestürzt die Gleichgültigkeit, mit der diese Übergriffe hingenommen, als Ausdruck „sozialer Konflikte“ hinwegerklärt oder sogar mit einem gewissen Verständnis bedacht werden. Malmös sozialdemokratischer Bürgermeister jedenfalls glaubte, den schwedischen jüdischen Gemeinden den Rat geben zu müssen, sie sollten sich doch von der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern distanzieren – das könnte die Wut der antisemitischen Gewalttäter abschwächen.

Antijüdischen Aggressionen geben sich heute mit dem Vorwand, auf der Seite vermeintlich hilfloser Opfer des „Zionismus“ zu stehen, einen Tarnanstrich, von dem sich große Teile der europäischen Öffentlichkeit offenbar nur zu gerne täuschen lassen. Dass sich „antizionistische“ Judenhasser gerade in skandinavischen Ländern wie Schweden und Norwegen ermutigt fühlen, ist kein Zufall.

Die Dämonisierung Israels gibt es bis zu den höchsten Ebenen

Die Dämonisierung Israels zum Alleinschuldigen am Nahostkonflikt ist seit vielen Jahren gerade dort bis zu den höchsten Ebenen der Politik gang und gäbe. Doch selbst noch, als bekannt wurde, dass Lehrer in norwegischen Schulen aus Angst vor den Aggressionen muslimischer Schüler bereits darauf verzichten, im Unterricht den Holocaust anzusprechen, bestritt Norwegens Bildungsministerin kategorisch jeden Zusammenhang zwischen „Israelkritik“ und Antisemitismus.

Dabei müsste inzwischen jedem verantwortlichen europäischen Politiker aufgefallen sein, dass die rituelle Anprangerung Israels zum Einfallstor für die Gewöhnung an einen auf Vernichtung abzielenden Judenhass geworden ist. Schon einmal, im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts, verdichtete sich im Antisemitismus wie in einem Brennglas all jene antimodernen, antidemokratischen und antiemanzipatorischen Ressentiments, die Europa schließlich in die Selbstzerstörung trieben.

Nicht „Islamophobie“ ist der Antisemitismus von heute

Jetzt, da die Judenfeindschaft nur ein wenig die Färbung, nicht aber ihre mörderische Substanz verändert hat, erweist sich das vermeintlich rundumgeläuterte Europa dagegen erschreckend wenig abwehrbereit. Stattdessen ergehen sich erlauchte akademische Geister in Vergleichen zwischen Antisemitismus und „Islamophobie“ und suggerieren, bei Letzterem handele es sich um den Antisemitismus von heute. Gewiss gibt es in Europa, außer berechtigter Furcht vor radikalislamischer Aggression, auch bedenkliche, fremdenfeindlich und rassistisch geprägte Affekte gegen Muslime, wie es sie gegen Sinti und Roma oder Schwarzafrikaner gibt.

Der Antisemitismus aber reicht weit über diese Art von Aversion gegen „das Andere“ hinaus. Er ist eine projektive Verschwörungstheorie über geheime Drahtzieher, die für alles Unglück dieser Welt verantwortlich gemacht werden – und er lässt nicht dadurch nach, dass auf dem gesamten Planeten gerade einmal 14 Millionen Juden übrig geblieben sind. Denn als Antithese zum Aufbruch in die weltliche Moderne, der einst von Europa ausging, nagt er weiter am Kern europäischer aufklärerischer Identität. Nicht „Islamophobie“ ist der Antisemitismus des 21. Jahrhunderts, sondern – der Antisemitismus.

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article11847743/Europa-laesst-sich-von-den-Judenhassern-taeuschen.html

Richard Herzinger: Europa lässt sich von den Judenhassern täuschen

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