“Ich kann nicht länger schweigen” – Interview mit dem Pianisten Evgeny Kissin

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Jahrelang sprach der Pianist Evgeny Kissin, wenn überhaupt, nur über seine Musik. Doch die Anti-Israel-Hysterie hat ihn zu einem politischen Menschen gemacht. Ein Gespräch über jüdische Wurzeln, offene Briefe an die BBC – und seine Liebe zu Mozart

Der 1971 in Moskau geborene Pianist Evgeny Kissin wurde mit einem Schlag der Weltöffentlichkeit bekannt, als er legendär langsam das 1. Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky unter Herbert von Karajan in dessen letztem Berliner Silvesterkonzert 1988 spielte. Seither legte Kissin in schöner Regelmäßigkeit Platten vor, ging auf Tourneen, seine Karriere verlief ruhig und stabil. Doch nun engagiert sich der introvertierte Pianist, der sonst fast nur über seine Kunst spricht, zum ersten Mal politisch und nimmt Israel vor seinen Kritikern in Schutz.

Welt am Sonntag: Herr Kissin, kürzlich machten Sie Schlagzeilen, weil Sie sich als einer der wenigen Künstler vehement für Israel einsetzen. Ist Ihnen Ihr jüdisches Erbe plötzlich wichtig geworden?

Evgeny Kissin: Ich habe meine jüdische Herkunft nie verleugnet – seit meiner Kindheit nicht. Auch wenn ich darüber bisher nie sprach. Ich rede nicht gern über Dinge, die mir persönlich sehr nahe sind. Deswegen spreche ich auch nicht gern über Musik – ganz besonders nicht über meine “Gefühle” gegenüber bestimmter Musik. Schostakowitsch sagte einmal: “Es ist ebenso unmöglich, in einem Interview über Musik zu sprechen wie über die Geliebte.”

Welt am Sonntag: Warum änderten Sie Ihre Haltung?

Kissin: Weil ich das Gefühl hatte, es tun zu müssen. Wenn ich von Ihren Kollegen nach meiner politischen Haltung gefragt worden bin, dann habe ich seit vielen Jahren gesagt: Ich denke nicht, dass sich Künstler aus der Politik heraushalten sollten. Andererseits haben sie aber, wenn sie es tun, eine große Verantwortung. Im letzten Jahrhundert haben einige Künstler aus politischer Naivität das Böse unterstützt – wie Ezra Pound oder Knut Hamsun im Zweiten Weltkrieg oder die vielen westlichen Künstler, die sich für die Sowjetunion ausgesprochen haben. Es gibt aber auch ein großes Vorbild: Mstislaw Rostropowitsch. Der hat sofort Alexander Solschenizyn unterstützt, als ihn die UdSSR verfolgt hat.

Welt am Sonntag: Und nun fanden Sie die Zeit reif, Partei zu ergreifen?

Kissin: Ja vor ungefähr einem Jahr fühlte ich, nicht länger schweigen zu können und dass ich über Israel sprechen muss. Es war wie ein innerer Drang.

Welt am Sonntag: Was hat den Drang ausgelöst?

Kissin: Die Welle von antiisraelischer Hysterie, die viele westliche Massenmedien ergriffen hat, besonders die BBC. Das hat mich beunruhigt, galt doch die BBC als ein Musterbeispiel für Objektivität, als Stimme der Freiheit und Wahrheit. Das war nicht nur meine Meinung und auch keine spezifisch jüdische. Schon 2002 hatte Wladimir Bukowski, einer der berühmtesten russischen, in England lebenden Dissidenten, verkündet, keine BBC-Gebühren mehr zahlen zu wollen, weil der Sender Propaganda für bestimmte politische Richtungen betreiben würde. Bukowski prangerte vor allem die Pro-EU-Haltung der BBC an, aber in einem Interview mit der russischen Zeitung “Isvestia” sprach er auch die Pro-Palästina- und Anti-Israel-Position der BBC an. Aber auch darüber schrieben die Westmedien nichts, und so folgte ich schließlich einem inneren Impuls und schrieb Ende letzten Jahres einen offenen Brief an die BBC.

Welt am Sonntag: Wie waren die Reaktionen?

Kissin: Die BBC selbst reagierte ausweichend und neutral. Es gibt eine Organisation, “Honest Reporting”, die den Umgang mit Israel überprüft, und die hat festgestellt: Nachdem die BBC in alter Manier zunächst weitermachte, scheinen seit einigen Wochen die Berichte wieder ausbalancierter zu sein. Das zeigt doch, dass man, wenn man in einer Demokratie lebt und unglücklich mit manchen Dingen ist, nicht schweigen, sondern laut und klar die Missstände anprangern soll. Dann wird es auch früher oder später Reaktionen geben. Was ich aber nicht einzig auf meinen Brief zurückführen möchte. Nachdem ich zwanzig Jahre meines Lebens bis zu deren Zusammenbruch in der ehemaligen Sowjetunion gelebt habe, habe ich zu spüren bekommen, wie glücklich und privilegiert wir alle sind, in Freiheit und Demokratie leben zu können. Wir alle sollten von diesen Vorteilen Gebrauch machen, besonders in einer Zeit, in der bösartige Kräfte die westliche Freiheit für ihre dunklen Ziele missbrauchen wollen.

Welt am Sonntag: Was hat Sie für dieses Thema sensibilisiert?

Kissin: Natürlich mein jüdischer Hintergrund. Aber ich möchte klarstellen, dass meine Position nichts mit jüdischem Nationalismus zu tun hat, sondern mit meinen Erfahrungen in der UdSSR. Während die staatlichen Medien Israel nur verleumdet haben, waren alle nicht von der Propaganda gehirngewaschenen Russen, egal ob jüdisch der nicht, im sogenannten Arabisch-Jüdischen Konflikt immer auf der Seite Israels. Nur nicht die Nationalisten und religiösen Fanatiker, weil Antisemitismus Teil ihres Programms und Glaubens ist.

Welt am Sonntag: Was bestätigt Sie darin?

Kissin: Die Zeitgeschichte. Wenn man die damaligen Aussagen gegenüber Israel von Regimegegnern wie Andrei Sacharow, Alexander Solschenizyn oder Wladimir Bukowski mit der aktuellen Stimmungsmache in den westlichen Medien vergleicht, dann ist das erstaunlich. Auch die Haltung der übrigen osteuropäischen Länder ist aufgrund ihrer Erfahrungen mit Diktaturen proisraelisch. Als jemand, der in einem bösartigen Reich aufgewaschen ist, werde ich immer ein Unterstützer des westlichen Systems, seiner Ideologien und Werte sein. Mit seiner Anti-Israel-Hysterie verrät der Westen freilich seit mehr als acht Jahren seine Prinzipien. Mit all seinen Fehlern ist Israel nach wie vor ein freier und demokratischer Staat, während seine Feinde, die es zerstören wollen, die schlimmsten Reaktionäre der Welt sind.

Welt am Sonntag: In der israelischen Zeitung “Ha’aretz” war bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Jerusalem zu lesen, Sie hätten eine anrührend naive zionistische Ausrichtung, wie aus dem 19. Jahrhundert. Stört Sie das?

Kissin: Nicht im Geringsten. Aber einige Dinge in dem Artikel haben mich und meine Freunde, die dabei waren, überrascht. So hat etwa niemand das Lachen unterdrückt während meiner Rede, wie behauptet, dafür hatten einige Leute Tränen in den Augen. Das Video der Rede ist auf YouTube und auf meiner Fan-Website (www.kissin.dk), da kann jeder sehen und hören, dass ich dreimal von Applaus unterbrochen wurde. Das zeigt doch, dass im Gegenteil zu der im Artikel vertretenen Meinung, das Publikum mich weder exzentrisch fand, noch dass ich jemanden beleidigt habe.

Welt am Sonntag: Lassen Sie uns auch über den Künstler Kissin sprechen. Sie haben zum dritten Mal in Folge Mozart-Konzerte eingespielt. Warum so dicht gedrängelt?

Kissin: Das ist Zufall. Ich spiele grundsätzlich mein Repertoire so lange, bis ich mich reif fühle, es auch aufzunehmen. Nie umgekehrt. Ich bin nie – mit einer kleinen Ausnahme – mit Stücken ins Studio gegangen, die ich nicht vorher öffentlich gespielt habe. Die Interaktion mit dem Publikum, das Ausprobieren, Weiterentwickeln im Konzert, das ist ein integraler Bestandteil meiner Repertoirepolitik. Pianisten wie Gould oder Gieseking konnten ein Stück spielen, nachdem sie die Noten nur im Kopf studiert hatten. Ich muss üben, bis ich den Klang erreiche, der mir vorschwebt. Manchmal dauerte es Jahre, bis ich das aufzeichnenswert finde.

Welt am Sonntag: Einer Ihrer ersten Konzertmitschnitte als Zwölfjähriger ist bereits das Konzert Nr. 20, das Sie jetzt neu eingespielt haben. Hat Sie Mozart ein ganzes Pianistenleben begleitet?

Kissin. Ja, besonders die Konzerte, zu denen ich immer wieder zurückkehre. Das d-Moll-Konzert war das erste Konzert, das ich überhaupt gelernt habe. Da war ich zehn. Meine Lehrerin hat es vorgeschlagen, ich fand es schön. Auch Bach habe ich so früh gelernt. Das war ganz normal. Dennoch werden russische Pianisten allzu oft auf ein romantisches und spätromantisches Repertoire reduziert.

Welt am Sonntag: Und warum jetzt noch einmal dasselbe Konzert für die CD?

Kissin: Mit meiner alten d-Moll-Konzert-Einspielung von 1992 war ich nicht mehr zufrieden, das interpretiere ich heute anders. Manche Entscheidungen von Musikern wirken freilich nach außen bisweilen geheimnisvoller als die oft pragmatische Natur ihres Zustandekommens. Ich spiele nur und nehme nur auf, was ich mag. Ich wollte Ende der Neunziger weitere Mozart-Konzerte mit James Levine und den Wiener Philharmonikern einspielen, wir hatten schon probiert, aber dann machten Tourneepläne des Orchesters das zunichte. Dafür hat es jetzt geklappt. Deshalb gibt es nun dreimal hintereinander Mozart von mir.

Das Gespräch führte Manuel Brug

http://www.welt.de/die-welt/kultur/article8407261/Ich-kann-nicht-laenger-schweigen.html

“Ich kann nicht länger schweigen” – Interview mit dem Pianisten Evgeny Kissin

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