Henryk M. Broder: RAKETEN-TERROR – “Wir leben hier wie im Himmel, aber einmal am Tag ist es die Hölle”

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Fast täglich schlagen in der Stadt Sderot Raketen ein, die aus Gaza abgefeuert werden. Meistens gibt es nur Sachschaden, manchmal auch Tote und Verletzte. Wie lebt man mit einer solchen Gefahr im Nacken? Ganz normal. So lange es einen nicht selbst erwischt.

Die Durchsage ist kurz und klingt wie ein Befehl. “Zeva adom, Zeva adom!” Farbe rot, Farbe rot. Eine Kassam-Rakete aus Gaza ist im Anflug. Es bleiben Sekunden, um einen Schutzraum aufzusuchen. Eine Entwarnung gibt es nicht. Man zählt bis zehn, und wenn man keinen Einschlag hört, ist die Gefahr vorbei.

In diesem Fall heißt das: Die Kassam ist am Kibbuz Nir Am vorbei geflogen und drei Kilometer weiter östlich eingeschlagen. In Sderot, auf dem Dach eines Hauses im Casdor-Viertel. Morgen wird man in den Zeitungen eine kleine Meldung lesen können, es habe keine Verletzten, nur geringen Sachschaden gegeben. Der Heißwasserboiler stand der Kassam im Weg, die Fernsehantenne wurde umgeknickt.

RAKETEN AUF ISRAEL: ZEIT FÜR EINE KASSAM

Als es passierte, saßen Ilja und Tatjana Rabajew mit ihrem Sohn Stanislaw und seiner Frau Anja auf der Terrasse beim Abendessen. Jetzt, zwei Stunden später, sitzen sie auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sohn und Tochter sind nach Hause gefahren, dafür sind ihre Freunde Albert, Arye und Alex gekommen. Sie reden darüber, was passiert ist und was hätte passieren können.

“Heute habe ich zweimal Glück gehabt”, sagt Ilja Rabajew. Morgens ging eine Kassam mitten in Nir Am runter, ganz in der Nähe der Fabrik, in der er arbeitet. Und kaum war er abends zu Hause, schlug eine Kassam über seinem Kopf ein. Die Feuerwehr war im Nu da und sammelte die Reste der Rakete ein, dann kam der Krankenwagen und brachte die Familie, die im dritten Stock wohnt, ins Krankenhaus. “Die stehen unter Schock.”

Seit sechs Jahren fast täglich eine Kassam

Die Rabajews kamen vor 15 Jahren nach Israel, aus Dagestan im Kaukasus. Nach einem Jahr in einem Wohnwagen bei Beer-Scheva bekamen sie eine Wohnung in Sderot. Sie haben schnell Hebräisch gelernt und Arbeit gefunden: Ilja im Kibbuz Nir Am, Tatjana in einem Gemüse-Packhaus in Netivot.

Daheim und mit ihren Freunden sprechen sie Russisch, sie kaufen russische Lebensmittel, lesen russische Zeitungen und schauen russisches Fernsehen. Die “Russen” in Sderot bilden eine Parallelgesellschaft, knapp ein Drittel der Einwohner der Stadt stammt aus der ehemaligen Sowjetunion.

Es geht ihnen relativ gut, besser als in der Sowjetunion und im postkommunistischen Russland. Wenn nur Gaza nicht gleich um die Ecke wäre. Seit inzwischen sechs Jahren hat es praktisch keinen kassamfreien Tag gegeben. Mit dem Abzug der Israelis aus Gaza im Sommer 2005 wurde es noch schlimmer. “Was haben die gegen uns? Wir haben denen doch nichts getan.”

Ilja Rabajew und seine Freunde verstehen die Welt nicht. Sie wissen nur eines: Irgendwas läuft schief, wenn die Regierung des Landes nicht in der Lage ist, das Leben und die Sicherheit der Einwohner von Sderot zu beschützen.

“Ich würde lieber heute als morgen von hier wegziehen, wenn ich nur könnte”, sagt Rachel. Das heißt, wenn die Preise für Immobilien nicht ins Bodenlose gefallen wären. Viele wollen verkaufen, kaufen will niemand.

Hunderte von Einschlägen, ein Dutzend Tote

Rachel, 1960 in Kairo geboren, kam mit zwölf Jahren zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern nach Israel. Seitdem lebt sie in Sderot, hat einen Busfahrer geheiratet und fünf Söhne bekommen. Der älteste ist 26, der jüngste fünf Jahre alt. Vor drei Jahren machte sie einen kleinen Imbiss im alten Zentrum auf, “Beit ha-Ful”, mit den ortsüblichen Spezialitäten: Falafel, Humus, Schakschuka, Schnitzel und Chips. Aber das Geschäft läuft schlecht, es kommen immer weniger Gäste.

“Siehst du die neuen Läden gegenüber?” Eine Kleiderboutique, ein Kosmetik- und ein Friseursalon. “Da ist im Frühjahr eine Kassam eingeschlagen. Danach war da nichts mehr.” Gleich um die Ecke wurde eine Frau, die gerade aus dem Bus stieg, von einer Kassam tödlich verletzt.

Die erste Kassam schlug vor sechs Jahren im Hinterhof des Hauses ein, in dem Rachel mit ihrer Familie lebt. “Mein Mann rief die Polizei an. Sie wollten es nicht glauben.” Seitdem hat es Hunderte von Einschlägen und ein Dutzend Tote gegeben.

“Wir versuchen, ein ganz normales Leben zu führen”

Allein auf Kibbuz Nir Am, zwischen Sderot und der Grenze zu Gaza gelegen, fielen seit dem Sommer 2005 über 80 Kassam-Raketen. Ofer Liebermann, 1960 in Haifa als Sohn rumänischer Einwanderer geboren, kam mit 18 Jahren nach Nir Am. Heute ist er für den “landwirtschaftlichen Bereich” des Kibbuz zuständig.

Auf einer Fläche von 20.000 Dunam werden Weizen, Sonnenblumen, Kichererbsen, Kartoffeln und Paprika angebaut, im Stall stehen 200 Kühe. Die Landwirtschaft, früher das Rückgrat eines jeden Kibbuz, beschäftigt gerade zehn Leute, macht aber 40 Prozent des Umsatzes. Nir Am, 1943 mitten in der Wüste gegründet, sieht heute mehr nach einer Ferienanlage unter Palmen als nach einer Siedlung in einer Gefahrenzone aus.

Ofer kartografiert die Kassam-Einschläge. Jeder rote Punkt auf einer großformatigen Karte markiert eine Einschlag-Stelle. Dass es nur ein paar leicht Verletzte und keine Toten gegeben hat, grenzt an ein Wunder. “Wir versuchen, ein ganz normales Leben zu führen.” Die vier Töchter der Liebermanns gehen alle zur Schule, Mutter Dorit hat sich zu Hause ein kleines Atelier eingerichtet, in dem sie Bilder malt.

Wie die meisten der 70 Familien von Nir Am fühlen sich auch die Liebermanns vergessen und verlassen. “Nicht einmal die Israelis wollen wissen, was hier passiert.” Das werde sich erst ändern, wenn eines Tages eine Rakete mitten in einem Kindergarten einschlägt. Aber auch Ofer weiß nicht, was getan werden müsste, um die Situation zu ändern. An eine politische Lösung glaubt er lange nicht mehr, eine militärische Option gibt es nicht. Gaza wieder besetzen? “Gott behüte! Alles, nur nicht das!”

Die Bushaltestelle zum Bunker umgebaut

Im Laufe der Zeit haben sich die Kibbuzniks von Nir Am an das Leben mit der ständigen Bedrohung gewöhnt. Anders als in Kiryat Schmona und anderen Siedlungen an der libanesischen Grenze haben die Häuser keine eingebauten “Schutzräume” für den Notfall. Dafür stehen auf dem Gelände elf kleine Bunker, auch die Bushaltestelle wurde zu einem “Shelter” ausgebaut.

Ofer Hammer, 57, ein Nachbar der Liebermanns, hat die Reste zweier Kassam-Raketen, die direkt neben seinem Haus eingeschlagen sind, auf der Veranda aufgestellt, neben einem anderen historischen Objekt, einem Massey-Fergusson-Traktor, Baujahr 1963, den er wieder instand gesetzt hat.

Hammer arbeitet bei der Regionalverwaltung, er ist für den Fuhrpark und die Schulbusse zuständig. Privat fährt er einen roten Käfer aus den sechziger Jahren und züchtet Hühner und organische Pampelmusen für den Eigenbedarf. Seine Kinder sind längst raus aus dem Kibbuz, er kann sich ein Leben außerhalb von Nir Am nicht vorstellen.

Dabei wird der Kibbuz gerade umorganisiert und “privatisiert”. Die Zeiten, da alle wenig hatten und der Mangel gerecht verteilt werden musste, sind lange vorbei. Jetzt werden leistungsbezogene Löhne bezahlt. Der Speisesaal, früher das Herzstück der Gemeinschaft, wurde mit der Küche an ein Catering-Unternehmen verpachtet, das andere Kibbuzim und Schulen in der Umgebung versorgt. Auch die Leute aus Nir Am müssen zahlen, wenn sie im Speisesaal essen wollen. Umsonst ist nur noch die gute Luft und das Rauschen der Palmen.

Über der Theke ein Bild des Wunderrabbiners

“Früher wurde alles subventioniert, jetzt machen wir Gewinn”, sagt Itzik Ebbo, in Nir Am für die Abteilung “Tajarut” (Touristik) zuständig. Ebbo, 1939 in Kairo geboren, kam 1952 nach Israel, wo er gleich nach der Schule Karriere in der Armee machte. Er schaffte es bis in eine Eliteeinheit unter dem Befehl von Ehud Barak, wobei ihm zugute kam, dass er fließend und akzentfrei Arabisch spricht.

Nun profitiert er von den Erfahrungen und Kontakten, die er aus dem Militär mitbrachte. Denn zum Bereich “Tajarut” gehört nicht nur der verpachtete Speisesaal und eine Bungalowanlage mit 20 Gästezimmern, Ebbo richtete auch drei Schießplätze ein, die von privaten Sicherheitsdiensten für die Ausbildung ihrer Leute benutzt werden. Im All-inclusive-Angebot ist neben der Unterbringung und Verpflegung auch die Munition enthalten, die im simulierten Häuserkampf verschossen wird.

Wenn Itzik Ebbo mal ausgehen will, dann fährt er mit seiner Frau Chava rüber nach Sderot, in die Bar und Pizzeria “Tnuvale”, ein Lokal, das Erinnerungen an die Sachlichkeit der sechziger Jahre weckt. Elraz Asran, 30, hat es vor einem halben Jahr von seinem Vater übernommen, dessen Eltern in den zwanziger Jahren aus Marokko eingewandert sind.

Deswegen hängt über der Theke ein Bild des Wunderrabbiners Abuhazeira, genannt Baba Sali, der von sephardischen Juden wie ein Heiliger verehrt wird. Obwohl er schon lange tot ist, soll er doch allen, die an ihn glauben, Glück und Segen bringen. In Sderot freilich sind seinem Wirken Grenzen gesetzt. “Vor zehn Jahren wohnten hier noch 28.000 Menschen, heute sind es etwas über 20.000.”

“Wir leben hier wie im Himmel, aber einmal am Tag ist es die Hölle”

Ein Viertel der Bevölkerung ist verzogen, nach Ashdod, Ashkelon, Beer-Sheva und Netivot, jenseits der Reichweite der Kassam-Raketen. Auch Elraz hat schon daran gedacht, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen, aber “das wäre Kapitulation”. Mit der Pizzeria kommt er über die Runden, allerdings nur weil er von morgens bis Mitternacht arbeitet und die Pizzas selbst ausliefert. Schlimmer ist, dass er wegen seiner zwei Kinder Gewissensbisse hat. “Es ist nicht fair, Kinder unter solchen Bedingungen aufwachsen zu lassen.”

Elraz, der am Sapir-College bei Sderot Elektrotechnik gelernt hat, verweigert seit sechs Jahren den Armeedienst. Nicht, weil er ein Pazifist ist, sondern weil er die Regierung zwingen will, etwas gegen den ständigen Beschuss aus Gaza zu unternehmen. Sollte die Armee wieder in Gaza einmarschieren, würde er sich sofort freiwillig melden, aber Siedlungen in der Westbank zu bewachen, während Kassam-Raketen in Sderot einschlagen – “nein, das mache ich nicht”.

2001 saß er deswegen eine Woche im Bau, seitdem hat nichts mehr von der Armee gehört, “die rufen mich nicht einmal an”. Die Militärs wollen Aufsehen vermeiden, denn Elraz ist nicht der einzige Reservist aus der Gegend von Sderot, der sich vom Dienst abgemeldet hat. Inzwischen sind es einige Dutzend und es könnten noch mehr werden.

Während Elraz Asran unter dem Bild von Baba Sali telefonisch eine Bestellung für eine wagenradgroße Pizza annimmt, sitzt Ofer Liebermann auf der Veranda seines Hauses in Nir Am und schaut in Richtung Gaza. Die kurze Stunde zwischen Tag und Nacht ist Kassam-Zeit. “Wir leben hier wie im Himmel, aber einmal am Tag ist es die Hölle.”

Henryk M. Broder: RAKETEN-TERROR – “Wir leben hier wie im Himmel, aber einmal am Tag ist es die Hölle”

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