Prof. Dr. Karl E. Grözinger: Die christlich-theologische Anmaßung, das Judentum definieren zu wollen.

Dr. Vollmer und das deutsche Pfarrerblatt – ein mittelalterliches Judendiktat aus der deutsch-protestantischen Gegenwart http://pfarrerverband.medio.de
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Wenn die christliche Wahrheit wirklich von den Juden kommt – davon ist der neue oberschwäbische Prediger wider das „unchristliche“ jüdisch-israelische Selbstverständnis zutiefst überzeugt – so möchte man ihm die Mahnung des jüdischen Lehrers Jesus von Nazareth in Erinnerung rufen:

„Was siehest du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt stille, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehest selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuvor den Balken aus deinem Auge und siehe dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!“ (Lukas 6 41-42)

Denn es ist eben dies, was der promovierte Balinger Pfarrer nicht befolgt. Er wirft den „nationalreligiösen“ jüdischen Siedlern in Israel vor, angeblich „im Gehorsam gegenüber Gottes Gebot“ das „Land vom Meer bis zum Jordan“ für sich zu beanspruchen, weil sie sich als „Werkzeug des göttlichen Heilsplans“ sehen. Und was tut er selbst? Er diktiert mit Zitaten aus seinem „Alten Testament“, das er heuchlerisch Tora nennt, wie das Judentum auszusehen habe, was das Wesen des Judentums sei. Nach Vollmer gilt für das Judentum seit dem zweiten Jesaja verbindlich, „dass Judas staatliche Verfasstheit nicht der zukünftige Weg Gottes mit seinem Volk ist.“ Die für den Pfarrer verbindlichen Judäer „haben keinen irdischen König und keinen Staat mehr erwartet.“ Der eigentlich richtige Ort für die Juden ist nach dem Balinger göttlichen Heilsplan das Exil und die „Identität stiftende Heimat und Mittelpunkt der jüdischen Religion sind nun die Bibel und der Talmud.“ Und Vollmers Deutung des zentralen jüdischen Erinnerungsbildes, der Exodus geht so: „Im Exodus aus Ägypten hat Israel die Befreiung aus staatlicher Gewaltherrschaft erfahren, im Exil ging ihm die Befreiung aus dem nationalstaatlichen Missverständnis seines Gottesglaubens auf. Die Existenz Israels ist exterritorial begründet und daher von keinem Territorium abhängig.“ Das Fazit: Ab mit den Juden ins Exil, weg aus Israel! Der Mann ist mit solchen Deutungen eben dies, was er den jüdischen Siedlern vorwirft, nämlich ein Fundamentalist, allerdings einer von der anderen, dieses Mal der christlichen Seite.

Denn, wenn die jüdischen Siedler angeblich mit Berufung auf Gott, Territorien beanspruchen, so spricht ihnen der Provinz-Theologe im Namen desselben Gottes jedes Recht auf staatliche Sicherheit, nationale Befindlichkeit und ein säkulares und damit politisches Selbstverständnis ab. Dies ist reines Mittelalter, auch wenn sich der Autor auf die zahlreichen unsäglichen Äußerungen ebenso gesonnener oder geschichtsklitternder Juden und Nichtjuden beruft.

Wenn der Balinger Gelehrte offen zugeben würde, dass er die berüchtigten mittelalterlichen religiösen Zwangsdebatten zwischen den überlegenen Juden und unterlegenen Christen fortführen wollte, dann wäre ihm dies geschenkt und man könnte sein Pamphlet unter der Rubrik „Sektiererei“ ablegen und lächelnd darüber hinweggehen. Aber der Mann ist ja zugleich auch ausgebildeter „Alttestamentler“, der dann plötzlich zum anscheinend zünftigen Historiker oder Religionsgeschichtler mutiert, wenn die biblischen Texte seiner dogmatischen Deutung widersprechen. Da handelt es sich dann plötzlich um „fiktionale Geschichtsschreibung“, die noch dem Stammesdenken verhaftet sei, während mit dem gewiss später entstandenen „Monotheismus … das Paradigma von Stammesgesellschaften und ihrer Gottheiten überwunden“ sei. Jetzt gelte, und muss laut dem christlichen Pfarrer auch für alle Juden gelten: „Gott ist der Gott aller Menschen und Völker. Gott ist auch nicht mehr auf ein Land bezogen, kein Landbesitzer.“ Hier schmiedet der selbstgerechte Autor sein einst im Seminar erworbenes historisches und religionsgeschichtliches Wissen sogleich zum dogmatischen Schwert gegen die seit je ‚verblendeten‘ Juden um.

Und gerade dies ist hier das „heuchlerische“, von dem das Eingangszitat spricht. Die Vermischung von theologischer Dogmatik und vermeintlicher Geschichtswissenschaft, mit deren Hilfe der fromme Autor suggeriert, für modernes politisches Denken verwertbare Diskussionsbeiträge zu liefern. Diese Vermischung vergiftet auch manche durchaus bedenkenswerte Monita und diskreditiert sie als parteiischen Hass gegen die Juden, die sich erlauben, sein zu wollen, wie es sie selbst für richtig halten und nicht wie der christliche Theologe ihnen diktiert.

Wer in der Debatte um die Nahostproblematik ein ernst zu nehmendes Wort mitreden will, muss sich entscheiden, ob er einen fundamentalistisch-theologischen, oder einen historischen Diskurs führen will. Ein rationaler historischer Diskurs wird die lange jüdische Geschichte, die Verfolgung und Ausgrenzung, den verzweifelten Versuch, dem zu entkommen, betrachten, die wirklichen Umstände der jüdischen Besiedlung Palästinas im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sowie die Schritte zur Staatsgründung Israels differenziert bewerten, und nicht wie ein dummer Schuljunge von „Eindringlingen und Räubern“ sprechen, die der „eingesessenen Bevölkerung das Land nimmt“. Eine glaubhafte historische Argumentation wird auch die Entscheidung der Völkergemeinschaft für diese Staatgründung als das betrachten, was sie war, eine Rettung jahrhundertelang Verfolgter und ein Wiedergutmachungsversuch der Völker Europas und anderer für eine fast zweitausendjährige Verschuldung am jüdischen Volk. Eine wahrheitsgetreue historische Betrachtung wird auch die Verantwortung der Völker Europas an der von dieser Geschichte erzeugten Notwendigkeit des Zionismus erkennen und das dabei neu entstandene unvermeidliche Unrecht als Folgeunrecht Europas und damit als Grund für europäische Verantwortung anerkennen und nicht eigene christliche Schuld auf die Juden abwälzen.

Historisches Argumentieren wird aber auch wahrnehmen, dass das jüdische Denken, jüdische Philosophie und Theologie nicht auf die hebräische Bibel festgenagelt werden kann, dass es eine bornierte vormoderne christliche Sicht ist, die Juden auf die „Tora“ im Sinne des christlichen „Alten Testaments“ festzulegen. Jüdische Philosophie und Theologie sind längst über die beschränkten Denkformeln der biblischen Texte hinausgeschritten, die ihre jüdische Gültigkeit nur zusammen mit der jüdische Auslegungstradition, der „Mündlichen Tora“ haben.

Da der Balinger Autor mit seinem Text weit entfernt von solch rationalen Differenzierungen und Einsichten ist, bräuchte er nicht eigentlich ernst genommen zu werden. Die Angelegenheit muss allerdings deshalb so ernst genommen werden, weil sich das evangelische Pfarrerblatt als Sprachrohr für solch törichtes Gerede zur Verfügung stellte und diesen schwer erträglichen hasserfüllten Torheiten den Anstrich des Offiziellen gibt und damit über zwanzigtausend Pfarrer erreicht, die nicht immer die Möglichkeit zu einer eigenen kritischen Sicht gewinnen können und darum in Gefahr stehen, dies als seriöse Meinung auszugeben und an das Kirchenvolk weiterzugeben. Dieser Unterhöhlung der von den protestantischen Kirchen nach der Schoah schmerzlich gewonnenen Einsichten und Neuorientierung ihres Verhältnisses zum Judentum muss mit allem Nachdruck entgegengetreten werden – auch wenn solche Verirrte glauben, sich auf die allseits bekannten notorischen jüdischen Antizionisten berufen zu dürfen.

Und spätestens dies ist der Punkt, an dem man die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland auffordern muss, sich von diesem Text und den darin vorgetragenen ewiggestrigen Auffassungen mit allem Nachdruck zu distanzieren und diese als entgegen der Meinung der EKD zu erklären – es sei denn, man identifiziert sich damit, was allerdings das Ende jeglichen jüdisch-christlichen Dialogs bedeuten würde und einen Rückfall in unsägliche Zeiten. Dies gilt uneingeschränkt auch dann, wenn das eine oder andere politische oder historische Faktum, manches Bedenken des Autors erwägenswert ist. Aber in einem falschen Kontext wird auch die Wahrheit zur Lüge.

Prof. Dr. Karl E. Grözinger: Die christlich-theologische Anmaßung, das Judentum definieren zu wollen.

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Karl E. Grözinger


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