Chava Gurion: Weltverständnis und islamistischer Terrorismus

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Heute, Ende März 2010, stehen Russland und die ganze Welt unter Schock. Zwei junge Selbstmordattentäterinnen, so genannte „Schwarze Witwen“, sprengten sich in zwei Moskauer Metro-Stationen in die Luft und rissen 40 unschuldige Menschen mit in den Tod, 65 weitere Verletzte sind zu beklagen. Unter den Opfern sind viele Kinder. Blutige Bilder des Grauens, verbreitet von seriösen wie von sensationsgierigen Medien, entsetzen die Weltöffentlichkeit. Der russische Geheimdienst hat auch für den jetzigen Terroranschlag islamistische Tschetschenen als Täter ausgemacht.

Schon durch die blutige Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater 2002, bei der 129 Menschen starben, wurden die „Schwarzen Witwen“ bekannt, die im Auftrag von tschetschenischen Terror-Chefs handeln. „Die Russen vernichten Tschetschenien, unsere Witwen werden sich dafür im Namen Allahs rächen“, verkündete der mittlerweile ermordete Rebellenführer Schamil Bassajew. Zwischen Oktober 2002 und Juli 2003 starben 375 Menschen durch Attentäterinnen, insgesamt sind in Russland seit 2002 insgesamt 944Terrortote zu beklagen. Seit 2006 wirkt Doku Umarow als tschetschenischer Rebellenführer, 2007 rief er das „Islamische Emirat Kaukasus“ aus – einen Fantasiestaat – und seit 2009 eine Offensive gegen Russland, für die er auch Selbstmordattentäter ausbildet.

Die Russische Regierung und das russische Volk schwören Rache. Premierminister Putin verkündete, die Polizei werde die Kriminellen finden und bestrafen, die Terroristen werden zerstört und ausgelöscht werden. Staatspräsident Medwedew versprach eine gnadenlose Jagd auf die Hintermänner, Russland werde ohne Zögern den „Krieg gegen den Terrorismus fortsetzen“. Das Volk steht hinter ihnen, die Stimmung ist aufgeheizt, alte Vorurteile wurden bestätigt. Tschetschenen werden mit Terroristen und Verbrechern gleichgesetzt. In Internetdiensten finden sich Aufrufe zur Jagd auf Tschetschenen: „Schagt dem Gesindel die Schädel ein“. (Z. B. Twitter).

Auch der Russland-Experte Gerhard Mangott, der allerdings auch schon zum Nahost-Konflikt seltsame Wortspenden ablieferte, die seine heutige Sichtweise des islamistischen Terrorismus gar nicht erhoffen ließen, findet in seinem Spezialmetier Russland nun doch zu einer richtigen Einschätzung: Es gehe hier jetzt um einen islamischen Krieg und darum, den gesamten muslimischen Nordkaukasus aus Russland heraus zu brechen und das zu bilden, was sie ein islamisches Kalifat nennen. Dabei wirkten auch Kämpfer von außen mit, etwa aus Afghanistan und dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Randbemerkung: Aus der Charta der Hamas in Gaza, die „niemals die Existenz Israels anerkennen wird“, vermochte Mangott keinerlei Bestrebungen nach einem „islamischen Kalifat Palästina“ herauszulesen, sondern erklärte die Terrororganisation Hamas zu jenen rechtmäßigen und gewählten Volksvertretern, mit denen Israel verhandeln müsse.

Als Russland-Experten kann man ihm das vielleicht nachsehen, was allerdings bei so vielen selbst ernannten Nahost-Experten leider ebenso üblich wie unverzeihlich ist.

Russland, genauer: die Russische Föderation, besteht als neu verfasster, souveräner Staat seit 26. September 1991 (Auflösung der Sowjetunion), erstreckt sich über eine Fläche von 17075400 qkm, davon liegen 3952550 qkm in Europa, und zählt 142,4Mio. Einwohner, davon leben 104 Mio. im europäischen Teil (Stand März 2008). In der Stadt Moskau leben ca.10,5 Mio. Menschen (Stand 2009), in der Agglomeration 14,6 Mio. (Stand 2007). In der russischen Teilrepublik Tschetschenien versuchen islamische Unabhängigkeitsbewegungen, einen souveränen Staat zu errichten. De facto herrscht in der kaukasischen Republik seit 1994 permanenter Kriegszustand, das Ausmaß der Kontrolle russischer Kräfte über das Gebiet ist „schwer feststellbar“ und interessiert weder die internationale Gemeinschaft noch selbst ernannte Friedens- und Menschenrechtsbewegungen.

Seltsamerweise finden sich weder im UN-Sicherheitsrat, in der UN-Menschenrechtskommission, noch in international tätigen Non-Government-Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch flammende Kritiker der „gnadenlosen Vorgangsweise“ Russlands gegen die tschetschenischen Rebellen. Die gezielte Ermordung von Terroristenführern, die aufgrund der in Islamistenkreisen üblichen Taktik des Verbergens hinter menschlichen Schutzschildern auch in Russland kaum ohne unbeteiligte zivile Opfer abgeht, wird dort eher als unvermeidliche Folge des „Krieges gegen den Terrorismus“ gesehen. Auch Experte Mangott vermutet als unmittelbaren Anlass für den letzten Anschlag Rache dafür, dass die russischen Sicherheitsdienste zwei Tage zuvor einen führenden Rebellen getötet haben.

Dagegen steht niemand der internationalen Friedenstauben, Menschenrechtseinmahner und Freiheitsbewegungsunterstützer auf und schreibt dem tschetschenisch-islamistischen Terror in Russland nur die Rolle „des verständlichen Verzweiflungskampfes eines unterdrückten Volkes gegen seine Besetzung“ zu. Wir können auch davon ausgehen, dass der Rebellenführer und Ober-Terrorist DokuUmarow, Kampfname DokuAbuOsman, in seiner Militäruniform für sein fantasiertes „Islamisches Emirat Kaukasus“ nicht vor der UNO sprechen dürfen wird. Tschetschenien wurde in einem der russisch-osmanischen Kriege des 19. Jahrhunderts vom zaristischen Russland erobert und im Gegensatz zu Armenien, Georgien und Aserbaidschan vom neuen demokratischen Russland nicht in die Unabhängigkeit entlassen. Dort, wie auch für die Binnengrenzen Europas, für alle andere Grenzen und Friedensschlüsse der Welt gilt: Der einstige Kriegsgewinner erhält erobertesTerritorium, kann es für immer behalten oder auf Goodwill auch wieder hergeben. Keine Weltregel ohne Ausnahme: Hier heißt sie Israel.

Israel besteht als wiedererrichteter und von der Vereinten Nationen als Mitglied und in seiner Existenzberechtigung voll anerkannter, souveräner Staat seit 14. Mai 1948, erstreckt sich über 20700 qkm „Kernland“ (vor 1967), sowie1150 qkm Golanhöhen und 70 qkm Ostjerusalem durch (international nicht anerkannte) Annexion. Das Westjordanland mit 5879 qkm ist ebenfalls umstrittenes Gebiet, wird jedoch gemäß UN-Sicherheitsresolutionen Nr. 242 und 338 von Israel militärisch verwaltet. Populärer, weil bedrohlicher verstanden ist der Begriff „Besetzung“, wobei auch von völkerrechtlich nicht ganz Ungebildeten gerne übersehen wird, dass nur ein fremder Staat besetzt werden kann, nicht aber einer, der vorher niemals existiert hat. Teile des Westjordanlandes unterstehen bereits der Palästinensischen Autonomiebehörde, wie auch der gesamte Gazastreifen mit ca. 360 qkm, der 2005 von Israel vollständig geräumt wurde. Israel hat 7,49 Mio Einwohner (Stand: November 2009). Seit September 2000 verzeichnet Israel 1188 Todesopfer durch palästinensischen Terror.
(Quelle:
http://www.mfa.gov.il/MFA/Terrorism-+Obstacle+to+Peace/Palestinian+terror+since+2000/Victims+of+Palestinian+Violence+and+Terrorism+sinc.htm ).

Blutrünstige, grausame Bilder, wie von diesem letzten Terrorattentat in Moskau oder etwa vom islamistischen Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001, wurden von den Terrorattentaten in Israel nicht veröffentlicht, weil jüdischen Traditionen aus Achtung der Opfer und ihrer Intimität derartige Darstellungen und vor allem deren politische Instrumentalisierung über sensationsgeile Medien verbieten. Selbstverständlich existieren solche Bilder, und etwa jene von den Anschlägen auf Linienbusse 2002 in Jerusalem, bei Tel Aviv oder auf den Busbahnhof in Tel Aviv, in Netanja und Haifa 2003 usw. stehen an Grauenhaftigkeit jenen von den Moskauer Anschlägen keinesfalls nach.

Dass die politische Vermarktung von Opferbildern nur höchst einseitig von Palästinensern betrieben wird, dies sogar ohne Scheu vor – bereits aufdeckten – Fälschungen, ist nur eine Fassette des in einseitiger Darstellung gegenüber der Weltöffentlichkeit nicht zu übertreffenden Nahost-Konfliktes. An dieser Stelle darauf näher einzugehen erübrigt sich. Hunderte von nur gegen Israel gerichtete UN-Resolutionen, die einseitige Kritik sämtlicher Kriege, Terrorbekämpfungsmaßnahmen wie Sicherheitszaun und Operation in Gaza usw. haben über die Medien in das Grundverständnis von freischaffenden Politik-Dilettanten bis auf den letzten Stammtisch gefunden.

Als Beobachter dieser sehr unterschiedlichen, ja konträren Rezeptionen und Reflexionen von deutlich ähnlichen, wenn nicht systematisierten islamistischen Terrorkriegen und ihrer Opferstaaten in der Weltöffentlichkeit drängt sich die Frage nach dem Warum auf. Beim islamistischen Terroranschlag auf das World Trade Center könnte man – neben einem Vergeltungsschlag der Islamisten für die Rolle der USA im Irak-Krieg – auch noch Rache für die heute gerade noch als Lippenbekenntnis vage gegebene Unterstützung der USA für Israel mutmaßen, wofür diese von den Friedenstäubchen der Welt ausreichend kritisiert werden. Nicht wenige Antiimperialisten, Israelkritiker und latente Alt-Neu-Antisemiten verbreiten gerne Ratschläge an die USA, diese mögen sich nicht mehr in die Probleme der Restwelt einmischen und vor allem Israel endlich zum Abschuss freigeben, dann werde man auch vom „verständlichen“ islamistischen Terror der, um Gottesstaatlichkeit und islamische Weltordnung Bemühten, nebenbei immer auch noch „Palästina-Befreier“ Ruhe haben.

Russland dagegen ist frei von jedem Verdacht, Israel sonderlich zu unterstützen, und fällt daher in eine andere Kategorie. Bei Russlands Umgang mit seinen Terroristen kann man beide Augen verschließen, es wird schon alles seine Richtigkeit haben, wenn es mit seinem „kriminellen Gesindel“ blutig aufräumt. Bei Israel genügt ein Auge, dieses ist allerdings weit aufzureißen und scharf zu stellen: das des pingeligen, überkritischen Anklägers.

In der Wissenschaft gilt als eines der Kriterien für den „neuen“ Antisemitismus, der sich als Antiisraelismus manifestiert, neben Diffamierung und Delegitimierung die Anwendung von Doppelstandards in der Kritik. Dafür sind die unterschiedlichen Rezeptionen der islamistischen Terrorkriege in Russland und Israel ein sehr anschauliches Beispiel. Für die Anwendung von Doppelstandards in der Kritik sind aber weniger ideologische, sondern immer auch weltökonomische Gründe maßgeblich. Niemand will es sich mit der an Rohstoffen reichen Großmacht Russland, einer der global Players, wirklich anlegen. Weltökonomie und Weltpolitik können ohne Russland nicht auskommen. Das verstehen auch die Radikaldemokraten, Friedenstäubchen, Menschenrechtseinmahner und Stammtisch-Moralisten. Das winzige Israel aber will und braucht offensichtlich niemand, außer den wenigen Millionen Juden, die dort oder außerhalb leben, es lieben, für seine Zukunft hoffen und stets dafür einstehen werden.

Chava Gurion: Weltverständnis und islamistischer Terrorismus

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