Saul Friedländer – Das Recht auf Fassungslosigkeit

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http://www.focus.de/kultur/buecher/saul-friedlaender_aid_135392.html

Der israelische Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer wird 75 – und erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Saul Friedländer hat in dieser Woche gleich zwei Mal Grund zum Feiern

Wer aus der Geschichte lernen will, dem genügt die wissenschaftliche Analyse nicht. Er muss auch versuchen, die historische Distanz zu überbrücken, muss die Objekte seiner Untersuchung zu lebenden, leidenden, atmenden Menschen machen. Saul Friedländer, der am 11. Oktober 75 Jahre alt wird, hat die nationalsozialistische Judenvernichtung überlebt und sein Werk fortan der Erklärung des scheinbar Unerklärlichen gewidmet, das er zwischen Opferperspektive und wissenschaftlicher Untersuchung so erlebbar und detailgenau wie möglich rekonstruiert.

Seine Eltern, deutschsprachige Juden aus Prag, flohen vor den Nazis mit ihm nach Frankreich. Als auch dort die Wehrmacht einmarschierte, brachten ihn seine Eltern in ein katholisches Internat. Sie selbst wurden beim Versuch, in die Schweiz zu entkommen, von Gendarmen des Vichy-Regimes verhaftet, an die Deutschen ausgeliefert und von diesen nach Auschwitz deportiert, wo sie in den Gaskammern des Konzentrationslagers umkamen.

Israeli und Weltbürger

Friedländer überlebte in dem Konvent, wo ihn die Geistlichen versteckt hielten. Nach Kriegsende trat er, geprägt von den leidvollen Erfahrungen der vergangenen Jahre, für den Zionismus ein und nahm 1948 am israelischen Unabhängigkeitskrieg teil. Danach studierte er in Tel Aviv, Paris und Genf, wo er 1963 promovierte. Seit 1976 lehrt er an der Universität Tel Aviv moderne europäische Geschichte, seit 1987 auch in Los Angeles, wohin sich sein Lebensmittelpunkt zunehmend verlagerte. In Israel tat er sich als scharfer Kritiker der Besatzung palästinensischer Gebiete hervor und trat für einen Dialog mit den Palästinensern ein.

Als Friedländers Hauptwerk gilt die monumentale zweibändige Studie „Das Dritte Reich und die Juden”. Der erste Teil, „Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939″ erschien 1997, der zweite, „Die Jahre der Vernichtung 1939 – 1945″, folgte im vergangenen Jahr. Den chronologischen Fluss der Ereignisse unterbricht er in harten Schnitten, um persönliche Zeugnisse der Opfer – Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen – einzuflechten. So entsteht eine große, wenn auch verstörende Erzählung, die der Absicht des Autors gerecht wird, die Vernichtung der Juden in Europa gründlich historisch zu untersuchen, „ohne das anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit völlig zu beseitigen oder einzuhegen”. Der Holocaust war für Friedländer als Menschheitsverbrechen einzigartig.

Die Stimmen der Opfer

Von der umstrittenen These seines amerikanischen Kollegen Daniel Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker”, 1996)[1], der den eliminatorischen Antisemitismus im deutschen Volk schon angelegt sah, sodass Hitler ihn lediglich auszunutzen brauchte, hält er nicht viel. Den deutschen Historiker Götz Aly („Hitlers Volksstaat”), der das Augenmerk auf die wirtschaftliche Umverteilung als Ergebnis und Motivation der Judenvernichtung lenkte, schätzt Friedländer, ohne dessen These zu teilen.

Friedländer arbeitete über die fragwürdige Rolle der Kirchen im Holocaust, über Todeskult und Nazi-Kitsch, und auch über die Unmöglichkeit, das nationalsozialistische Deutschland als Teil einer „normalen” Geschichtsperiode zu verstehen. Am 14. Oktober, drei Tage nach seinem 75. Geburtstag, wird Saul Friedländer in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennehmen – an genau dem Ort, an dem Martin Walser vor neun Jahren von der „Auschwitzkeule” und der „Banalität des Guten” sprach. Auf Friedländers Seite sind nicht nur die Fakten, sondern auch die Stimmen der Opfer.



[1] Anm. Red. SPME Faculty Forum German Edition: siehe dazu auch Matthias Küntzel: Goldhagen und die gewöhnliche deutsche Linke und weitere Artikel zur Goldhagen-Debatte

Saul Friedländer – Das Recht auf Fassungslosigkeit

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