Robin Stoller: »Die vergangenen zwei Monate waren die Hölle«

Interview von Robin Stoller mit Mohammed Mouha
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Am 14. Februar 2008 wurde in der nordmarokkanischen Stadt Al Hoceima eine berberisch-jüdische Freundschaftsorganisation mit dem Namen Addakira Almouchtaraka (Mémoire Collective) gegründet. Sie ist die erste marokkanische Vereinigung, die den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Bekämpfung des Antisemitismus legt. Bereits nach Bekanntgabe der anstehenden Gründung im Januar wurden die Beteiligten von Islamisten, Pan-Arabisten und von staatlicher Seite attackiert und bedroht. In Kürze soll die Organisation über die Webseite www.memoirecollective.net erreichbar sein.

http://jungle-world.com/artikel/2008/14/21486.html

Welche Ziele verfolgen Sie mit Mémoire Collective?

Unsere Organisation will die gesellschaftlichen Probleme thematisieren, die für den marokkanischen Staat und die politische Elite tabu sind, die aber einen großen Teil der Bevölkerung, die Organisationen, die politischen Parteien und die Gewerkschaften betreffen. Eines dieser Probleme ist der Antisemitismus, ein anderes die Rechte des Individuums. Da es schon eine Reihe von Leuten gibt, die für letztere kämpfen, haben wir den Schwerpunkt unserer Arbeit auf den Antisemitismus gelegt.

Um welche Rechte des Individuums muss in Marokko gekämpft werden?

Es geht hier unter anderem um Homosexualität. Die marokkanische Gesellschaft ist noch sehr weit davon entfernt, über Lesben zu reden. Es ist allgemein bekannt, dass es in den vergangenen zwei Jahren eine starke Repression gegen Schwule gab. So wurden beispielsweise Besucher einer Schwulenparty in Tétuan verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. Das gleiche passierte in Alksar Kbir, wo es anschließend aber immerhin zu einer Solidaritätsdemonstration gegen die staatliche Repression kam.

Welchen Einfluss hat Ihre Organisation auf die politischen Debatten in Marokko?

Unsere Organisation ist keine politische Kraft, die einen Machtwechsel einleiten kann, sondern ein Instrument, um zunächst eine Sensibilität für das Problem Antisemitismus zu schaffen. Die Gesellschaft muss überhaupt erst verstehen, dass Antisemitismus kein Mittel sein darf, um sich von anderen abzugrenzen und schon gar nicht einen humanistischen Wert darstellt, sondern die Existenz anderer Menschen bedroht. Die Stärke unserer Organisation lässt sich derzeit nicht an der Zahl der Personen festmachen, die sich engagieren, das sind nur 21. Unsere Stärke besteht darin, dass wir eine Idee transportieren und eine Reaktion auslösen. Auch wenn es sich vor allem um Angriffe gegen uns handelt.

Auf welche Weise wurde Ihre Organisation attackiert?

Wir mussten die Organisation ziemlich schnell gründen, weil die Ereignisse sich überschlugen. Im vergangenen Jahr wollte ich mit ein paar Leuten anlässlich des 16. Mai, des Jahrestags der Anschläge in Casablanca, eine Veranstaltung gegen Antisemitismus und den politischen Islam organisieren. Doch der damalige Innenminister Fuad Ali el Himma hätte die Veranstaltung nur zugelassen, wenn sie sich allgemein gegen Inoleranz und Terrorismus ausgesprochen hätte. Daraufhin gründeten wir Ende 2007 ein landesweites Komitee, um eine Organisation gegen Antisemitismus ins Leben zu rufen. Dazu trafen wir uns auch mit Gert Weisskirchen, dem Beauftragten zur Bekämpfung des Antisemitismus bei der OSZE, der versprach, sich für das Projekt einzusetzen. Doch schnell wurde deutlich, dass es außer im Norden Marokkos nicht möglich sein würde, Unterstützer für eine landesweite Organisation zu finden.

Meine Tochter Lina und ein weiterer Jugendlicher nahmen Ende Januar an einer internationalen Jugendkonferenz in Yad Vashem zum Holocaust-Gedenktag in Israel teil. Am folgenden Tag publizierten zwei Zeitungen meinen Namen mit der Information, dass ich meine Tochter nach Israel geschickt hätte. Zuerst attackierte mich meine ehemalige Partei, die pan-arabisch ausgerichtete linke Voie Démocratique, und dann die islamistischen Parteien PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und Al Badil Al Hadari. Ich ging in die Offensive und gab öffentlich bekannt, dass am 14. Februar, am Tag der Liebe, in Al Hoceima die Gründungsversammlung der Organisation gegen Antisemitismus abgehalten werden würde.

Was waren die Reaktionen darauf?

Das, was wir in Al Hoceima in den vergangenen zwei Monaten erlebt haben, war die Hölle. Jeder einzelne, der bei der Gründung der Organisation beteiligt war, hat diese Zeit so erlebt. Es wurde alles versucht, auch von staatlicher Seite, um die Gründung zu verhindern. So fand beispielsweise eine Demonstration vor der Schule des Jungen statt, der mit meiner Tochter in Yad Vashem gewesen war. Sein Vater wurde eingeschüchtert und dafür bezahlt, dass er und sein Sohn sich von uns distanzierten. Zwei Personen aus dem Vorbereitungskomitee wurden ebenfalls eingeschüchtert und bestochen. Aufrufe zu Gewalt und Morddrohungen gegen uns und unsere Familien wurden in Zeitungen und im Internet verbreitet.

Die Zeitung der PJD behauptete am 19. Februar in einem durch und durch antisemitischen Artikel, dass ich 300 000 Euro aus Israel für die Gründung der Organisation erhalten hätte und rief ihre Aktivisten zur Gewalt gegen mich und die anderen Mitglieder auf. Das Gleiche tat auch die Zeitung der islamistischen Partei Al Badil Al Hadari. Diese Partei wurde im Übrigen vor einigen Wochen, im Zuge der Aushebung eines terroristischen Netzwerks, das die Ermordung von Juden in Marokko plante, nach größeren Waffenfunden in ihren Räumen vom Innenministerium verboten. Nur eine von den arabischsprachigen Zeitungen reagierte nicht antisemitisch auf die Gründung von Mémoire Collective.

Wie erklären Sie sich die heftigen Reaktionen?

Die Angriffe gegen uns stehen im Kontext der politischen Entwicklung Marokkos. Das Land befindet sich derzeit in einer entscheidenden Phase, nach der sich zeigen wird, ob es sich in Richtung Diktatur oder in Richtung Demokratie bewegt. Die marokkanische Bevölkerung wird von einem Staat und einer von ihm geförderten Elite regiert, die kaum Rücksicht auf die Bedürfnisse der Marokkaner nehmen. In der marokkanischen Verfassung ist nach wie vor nur von der arabisch-muslimischen Bevölkerung die Rede, obwohl in Marokko Berber, Araber, Juden und Christen leben.

Die Angriffe gegen unsere Organisation stehen damit in Verbindung, dass weder der Staat noch die politische Elite ein Interesse daran haben, den politischen Status quo zu verändern. Es gibt allerdings derzeit eine Art Machtkrise in Marokko. Bei den letzten Parlamentswahlen lag die Wahlbeteiligung nur bei 35 Prozent und die für die nächsten Parlamentswahlen sehr wichtigen Gemeindewahlen stehen bald an. Um seine Position zu stärken, versucht der König seit geraumer Zeit, über den ehemaligen Innenminister Fuad Ali el Himma eine Einheitspartei in Marokko zu gründen, was zu einer Diktatur führen könnte. Dieses politische Klima ist dafür verantwortlich, dass die Islamisten unsere Organisation derart heftig attackieren konnten.

Haben Sie auch Unterstützung von der marokkanischen Bevölkerung erfahren?

In Al Hoceima, der Stadt, in der ich lebe, gibt es mehr als 300 Organisationen, von denen sich nur zwei gegen uns gewendet haben. Der Rest blieb passiv. Leute, die ich zu der Zeit auf der Straße traf, fragten mich, ob ich nicht Angst habe, ermordet zu werden. Es waren vor allem Künstler, Musiker, Theaterleute und Sportler, die uns ihre Solidarität ausgesprochen haben. Das sind die Menschen, die in der einen oder anderen Weise durch die politische Elite und den Staat in ihrem Handeln eingeschränkt werden. Diese Leute waren aber an der Konstituierung unserer Organisation nicht beteiligt, weil sie Angst vor gewalttätigen Übergriffen hatten. Dadurch, dass wir trotz aller Drohungen und Attacken unsere Gründung vollzogen haben, glaube ich, dass wir den Menschen in Al Hoceima und in ganz Marokko ein gewisses Vertrauen gegeben haben, dass es Möglichkeiten gibt, den herrschenden Diskurs zu durchbrechen.

Welche Aktivitäten planen Sie in Zukunft?

Wir planen weitere lokale Gruppen von Mémoire Collective in Marokko sowie in Spanien, Frankreich und Deutschland zu gründen. Unser längerfristiges Ziel ist es, ein europäisch-maghrebinisches Netzwerk gegen Antisemitismus und für die Rechte des Individuums zu etablieren. In Al Hoceima werden wir Anfang August einen internationalen Kongress gegen Antisemitismus organisieren.

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