Peter Weidner: Disteln am Pöstlingberg

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Eine seltsame Einladung in meinem elektronischen Postkastl. Pax Christi (Menschen machen Frieden) und die Ökumenische Landesgruppe OÖ sowie das Evangelische Bildungswerk Linz-Innere Stadt laden mich zu einer Lesung ins Gemeindezentrum der Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Linz-Innere Stadt ein.

Die Lesung “Disteln im Weinberg” – ein palästinensisches Tagebuch von Sumaya Farhat-Naser – steht auf dem Programm.

Viel versprechend der Begleittext der friedensbewegten Christen: “Die Palästinenser leben seit 60 Jahren in einem besetzten Land; ihr Alltag ist geprägt von der Willkür der Besatzungsmacht Israel, von der Mühsal und den Schwierigkeiten zu überleben in diesem von Mauern immer mehr eingeschnürten Land.

Dr. Sumaya Farhat-Naser hat dieses alles in ein Tagebuch über den Zeitraum Juni 2006 bis März 2007 geschrieben. Sie webt die großen Probleme ihres Landes hinein in den Alltag ihrer eigenen Familie. Die Autorin ist in Österreich durch Lesungen aus ihren eigenen Büchern und durch ihre Mitarbeit im Weltgebetstag der Frauen eine der bekanntesten Palästinenserinnen. Ihr beruflicher Lebensschwerpunkt ist Friedensarbeit und Konfliktbewältigung. In Kursen und Seminaren versucht sie die Samen zu säen, die sich zu einem Baum des Friedens auswachsen mögen.”

Ich ahne, dass viel Arbeit auf mich zukommt und kaufe ein Olympus-Aufnahmegerät mit externem Mikrophon.

Frau Doktorin Sumaya Farhat-Naser übertrifft meine Erwartungen. Sie legt – hier auszugsweise im O-Ton – los:

“Für viele ist 1948 ein besonderes Jahr, weil Israel gegründet worden ist. Aber für uns Palästinenser ist es das Jahr der Katastrophe. Es ist eine tiefe Verletzung in mir. Für sie (Anm.: die Jüdinnen und Juden) war es eine Rettung…. Ich werde keinen politischen Vortrag halten…. Wir haben eine Militärbesatzung, die mehr als 40 Jahre andauert….

Jetzt kommt die Mauer, sie haben eine Mauer gebaut. Wer Unrecht tut, muss sich fürchten. Wir haben das Recht ängstlich zu sein…. Es herrscht Rechtsbruch und der Klagende schreit…. Es könnte jetzt das Militär kommen und auf dem Weinberg auf die Jugendlichen schießen”….

Nur traurige Berichte über den israelischen Luftangriff auf den Strand von Gaza. Eine Elfjährige überlebte, aber ihre Familie wurde getötet…. Israel äußert Bedauern. Aber entschuldigt sich nie. Israel entschuldigt sich prinzipiell niemals….

Seine Freilassung war wie ein Volksfest. Er gab niemandem die Hand. Sie hatten jeden Finger einzeln gestreckt, und er hatte große Schmerzen…. Die Zelle war kaum einen Meter breit und lang…. 563 Checkpoints. Wir können nichts planen. Wir dürfen nichts planen….

Heute traf ich meinen ehemaligen Studenten Moh. Moh arbeitet an seiner Dissertation, wie Kinder zu Kollaborateuren gemacht werden. Kein Besatzungssystem kann ohne Kollaborateure funktionieren. Nach israelischen offiziellen Angaben gibt es 80.000 Kollaborateure. Die Mehrheit wurde als Kinder rekrutiert. Ein Tabuthema, dass niemand darüber spricht. Die Seelen der Kinder werden zerstört.

Wir machen es den Israelis so leicht, vom Hubschrauber aus eine Bombe oder eine Rakete zu werfen, in Gaza, in Ramallah. Die Kollaborateure werden erpresst. Sie werden getrampelt, sexuell missachtet (sic!) und Schreckliches an ihnen getan, gerade wenn sie als Kinder ins Gefängnis kommen. Zur Zeit sind 14.000 Menschen im Gefängnis, davon 820 Kinder unter vierzehn Jahren, 180 Frauen und 32 Mädchen unter 14 Jahren. Und Moh arbeitet an diesem Thema…. Es wurde in der israelischen Zeitung,Haaretz’ veröffentlicht. Die Reaktion war, es war ein Schock für alle….

Die Palästinenser haben acht verschiedene Identitätskarten…. Die Kinder gelten als illegal, wenn die Eltern verschiedene Identitätskarten haben…. Erschreckend sind die Verbote und Rechte…. Am liebsten würde ich laut schreien.”

Das holte Frau Doktorin Sumaya Farhat-Naser dann in der Diskussion nach.

Ich meldete mich als erster zu Wort:

“Warum es zwischen den Palästinenserinnen und Palästinensern und den Israelis keinen Frieden gibt, wurde mir aufgrund ihrer Worte bewusst. Wenn man das Jahr 1948 als Katastrophe empfindet und wie Sie tief verletzt ist, erkennt man den Staat Israel auch nicht an”. (Frau Farhat-Naser will mich
unterbrechen.) “Heute leben in Israel fünf- bis sechsmal so viele Palästinenserinnen und Palästinenser wie vor 60 Jahren. Alle verdienen genauso viel wie die Israelis. Sie besuchen die Schulen und werden in den Krankenhäusern genauso aufgenommen und behandelt wie die Israelis. (Sie versucht mir wieder lautstark das Wort zu nehmen.) Sie verdienen in Israel siebenmal soviel wie in den arabischen Ländern, in denen sie ausgebeutet werden”. (Sie will wieder unterbrechen.)

“Als,Friedenserzieherin’, wie Sie sich titulieren, müssten Sie auch die andere Seite beleuchten. Sie haben die Hamas-Mörderbrigaden, die sogar Palästinenser von Hochhäusern werfen, nicht erwähnt. Sie haben das Wort Hisbollah nicht in den Mund genommen. (Sie schreit was Unverständliches dazwischen.) Während wir hier sitzen, gehen sicher wieder Kassam-Raketen der Hamas auf die israelische Grenzstadt Sderot nieder. Kein Wort von Ihnen dazu.”

Frau Doktorin Sumaya Farhat-Naser kommt jetzt so richtig auf Betriebstemperatur und ist, ob ihrer Lautstärke, sehr gut auf dem Olympus-Gerät zu verstehen:

“Ich bin nicht hergekommen, um aufzurechnen. In den letzten zwei Monaten wurden 800 Palästinenser ermordet. Das Verhältnis ist eins zu zwanzig. Seit 1948.”

Ein junger Mann von den Linzer “Friends of Israel”: “Angeblich hat ja Gaza den schönsten Strand. Warum machen die Palästinenser nichts daraus? Wie Tunesien zum Beispiel”.

Farhat-Naser: “Israel kontrolliert dort noch alles.” Und zu mir: “Sie argumentieren wie vor dreißig Jahren. Es gibt Nebengesetze, die uns diskriminieren. Lesen Sie Moshe Zuckermann.” “Und Uri Avnery, Tom Segev, Walt, Mearsheimer und Tony Judt” unterbreche ich sie.

Mit “die neuen Einwanderer sind gar nicht Juden. Sie nehmen unser Land und alles was sie brauchen” setzt sie fort.

Ich frage Sie, “warum gibt es die Mauer, sind die Attentate zurück gegangen, ja oder nein? Sie sind drastisch zurück gegangen!” Sie schreit. (Leider nicht verständlich.)

Ein Herr, wahrscheinlich Palästinenser oder Araber, brüllt aus dem Hintergrund: “Was geht dem Herrn das an? Warum gehen die Juden nicht nach Europa zurück!”

Frau Doktor antwortet ganz glücklich: “Wenn sie möchten. Wenn sie nicht möchten, können sie bleiben.”

Der junge “Friends of Israel”: “Die Palästinenser mögen sich selber nicht, sonst würden sie nicht so handeln. Warum kurbeln sie die Wirtschaft nicht an?” Dr. Farhet-Naser: “Gaza ist besetzt. Israel lässt uns nicht.”

Ein Diskutant: “Ihr Bericht über die Kollaborateure hat mich sehr geschockt. Ich gratuliere Ihnen zu Friedensarbeit. Machen Sie bitte weiter.”

Tosender Applaus.

Eine Frau: “Ich bewundere Sie sehr und hoffe, dass sie durchhalten können.”

Frau Farhet-Naser dankt: “Die einen sagen, Gott hat uns das Land gegeben. Aber uns auch.”

Dann eine Wortmeldung eines Herrn aus dem anderen Ende des Saals, die aber auf dem Tonband nicht gut zu verstehen ist. Er geht auch auf die Angst der Menschen in Sderot ein.

Frau Farhet-Naser: “Hamas ist nicht verantwortlich für alles. Hamas ist jetzt schon bekannt als Verräterin.” (Sic!)

Friends of Israel: “Es gibt arabische Fernsehsender, wo Juden als Schweine dargestellt werden. Auch im Kinderfernsehen.”

Frau Farhet-Naser schreit ihn im Chor mit dem Großteil des Publikums nieder.

Ein Mann stellt sich als Andreas Paul vor und will wissen, wie ich heiße. Nach einem kurzen “Google”-Besuch weiß ich, warum er fragte: Seit 1992 ist er Generalsekretär des Veranstalters Pax Christi Österreich.

Beim Verlassen des evangelischen Gemeindesaals fragt mich ein älterer Herr: “Sind Sie, sind Sie…” Ich: “Was?”. “Sind Sie, sind Sie, Jude?” Mein “Warum, sehe ich vielleicht so intelligent aus?” versteht er nicht ganz und stellt seine Frage ein drittes Mal.

Peter Weidner: Disteln am Pöstlingberg

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