George Weidenfeld: Zeit seines Lebens voller Neugierde

Andrea Seibel interviewt George Weidenfeldt
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Der britische Verleger George Weidenfeld ist einer der ganz großen Netzwerker und Brückenbauer. Ein Kosmopolit, der Gott und die Welt kennt. Mit Andrea Seibel spricht er über seine Kindheit, die Kraft der Freundschaft und die Eigenheiten der Deutschen.
Die WELT:
Unermüdlichkeit scheint Ihr Lebenselixier zu sein. Ist von Ihnen die Rede, spricht man vom Brückenbauer.
Lord George Weidenfeld:
Mein ganzes Leben war dafür prädestiniert. Ich habe verschiedene Welten erlebt, miterleben müssen. Als Kind lebte ich unter einem klerikal-faschistischen Milieu in Wien, dann kam der Nationalsozialismus und die Emigration, dann wollte ich den Europagedanken den Engländern nahebringen und umgekehrt England dem Kontinent. Es war instinktiv immer mein Wunsch, neue Milieus kennenzulernen und diese zusammenzubringen. Vielleicht wäre ich ein erfolgreicher Casting-Direktor in Hollywood geworden! Aber ein Verleger ist letztlich das Gleiche.

Das gibt Ihnen Glücksgefühle.
Das Schönste ist, eine Idee, die in mir wuchs, mit einem Autor zu verkuppeln, meist waren das junge, unbekannte Leute. Ich habe immer große Genugtuung bei der Entdeckung junger Autoren empfunden, die dann emporstiegen und Berühmtheiten wurden. Beispiel: der Historiker Niall Ferguson, den ich als Dozenten in Oxford kennenlernte. Welch gescheiter Mann. Den verbandelte ich mit Sir Evelyn Rothschild, und Ferguson schrieb ihm die Firmengeschichte eines der ältesten Bankhäuser Europas. Es wurde ein Riesenerfolg, und heute ist Ferguson Professor in Harvard.

Sie sind ein Entdecker, ein Menschenfischer.
All das hat einen unglaublich verjüngenden Effekt. Ich bin nicht gerne allein. In dieser Welt muss man die jungen Menschen kennen, auch gerade wenn man immer älter wird: die Politiker, die Historiker, all die Begabungen, die noch schlummern, müssen geweckt werden.

Da ist auch viel kindliche Freud’ mit dabei, nicht wahr?
Ich muss leider zugeben, dies ist der Fall! Ich hatte keine Spielzeuge als Kind. Ich erfand sie mir. In der Bibliothek des Vaters benutzte ich Schachfiguren und Dominosteine, um Theaterstücke zu inszenieren. Ich habe laut gelesen, mit verschiedenen Stimmen. Er hatte eine Sammlung deutschsprachiger Dramatiker des 19. Jahrhunderts zu stehen, die heute nur wenige kennen: Grabbe, Hebbel, Friedrich Halm, Laube, Gutzkow, Johann Nestroy. “Der Bauer als Millionär” oder “Der Verschwender”, darin schwelgte ich. Fast kann man sagen, dass mich Milieus mit anthropologischer Verve anzogen.

Muss ein Verleger alle seine Bücher gelesen haben?
Ich lese nur einen Bruchteil der vielen Bücher, die ich verlege. Weniger Belletristik, mehr Memoiren, Zeitgeschichte, Philosophie. Was mich interessiert, habe ich immer gelesen.

Sie haben viele bekannte Autoren werben können. Wer ist Ihnen entglitten?

Ich habe Jeffrey Archer abgelehnt. Ein Abgeordneter, der bankrott ging und abstürzte. Er wollte einen Roman schreiben. Ich lehnte ab. Das Buch verkaufte sich in England zwei Millionen Mal. Mit dem britischen Zeitungsverleger Rupert Murdoch hatte ich einen Vertrag ausgehandelt. Er sagte dann doch Nein mit zwei Wörtern: “No book.”

Worüber sprechen Sie heute mit Freunden?
Einige meiner Freunde sind bedeutend jünger als ich. Wir sprechen gerne über den Wandel der Gepflogenheiten. Zu meiner Zeit etwa waren die Reichen zurückhaltend, man gab nicht an. Heute tun genau dies die Neureichen. Es gibt ihrer zu viele. Sie wissen sich nicht zu benehmen, haben kein Profil. Früher gab es vielleicht vier Milliardäre. Heute sind es 4000, und einer ist so langweilig wie der andere. Darüber zu sprechen mit Gleichgesinnten ist für mich die höchste Form der Konversation.

Das klingt snobistisch. Wie würden Sie Ihren Snobismus beschreiben?
Man kann nicht alles gleichmütig sehen oder alles verstehen oder sich mit allen verstehen wollen. Es gibt ganze Kreise, die mich nicht interessieren. Ich jage nicht, ich treibe keinen Sport. Meine Verehrung gilt den Historikern, nicht so sehr den Reichen, Adeligen oder den Showstars. Ein großer Historiker ist eine Kategorie von Mensch, die ich bewundere und beneide, weil sie die Geschicke der Menschheit beleuchten. Die großen Historiker, die ich persönlich kannte, waren Benedetto Croce, Arnold Toynbee, Bernard Lewis, Eric Hobsbawm. Ich habe die meisten von ihnen auch verlegt.

Wer ist Ihr jüngster Freund?
Rowan Barnett, mein Enkel, 26 Jahre alt, Oxford-Absolvent, lebt derzeit in Berlin. Ein amüsanter Bursche. Mit meinen insgesamt vier Enkeln verstehe ich mich sehr gut. Ich bin sehr neugierig, was ihre Lebenswelt, die Stile, die Moden, die Gedanken betrifft. Ich bin wie My fair Lady – will wissen, wie die Jungen heute reden. In Österreich konnte ich Ihnen den Bezirk nennen, aus dem jemand kam. Ich hörte das an der Sprache. Heimito von Doderer hat diese Milieus wunderbar beschrieben. Diese Facetten gibt es heute nicht mehr. Die soziale Differenzierung, kodifiziert auch in der Kleidung oder den Accessoires, ist geschliffen.
In England gibt es eine neue klassenlose Sprache der jungen, alleinstehenden, gut verdienenden Frauen: Man nennt sie Sloane. Sie leben in Chelsea, feiern Trinkgelage und Partys. Das ist ihre Welt. Prinzessin Diana sprach Sloane. Heute sind die Nuancen regionale oder bewusste Akzente der breiteren Massen der Gesellschaft. Wenn heute jemand hereinkäme, der den klassischen Oxford-Akzent spricht, würde er gemieden werden. Er würde nie eingeladen werden. Das ist veraltet, manieriert. 99 Prozent der Oberschicht sprachen so. Jetzt sprechen sie bewusst mit Akzenten der anderen. Aber man erkennt sich dennoch.

Stimmt es, dass Sie sich noch 1938 in Wien duellierten?
Ja, ich war Mitglied einer jüdischen schlagenden Verbindung, der von Theodor Herzl gegründeten Unitas, Arthur Koestler war mein Alumnus. Als Mutprobe musste ich einen Gegner anstacheln. Mein Leitbursche sagte mir, “geh auf den dort zu, das ist ein Nazi”. Ich tat das in der Mensa: “Herr Kollege, Ihre Schuhe sind offen.” Er verweigerte mir die Satisfaktion, weil ich Jude war. Da nannte ich ihn einen Feigling. Unsere Sekundanten trafen sich daraufhin im “Café Landmann”. Er stimmte ein in ein Säbelduell, aber nicht in Montur – weil ich ein Jude war. Wir schlugen uns 197 Runden, die ja teilweise nur Sekunden dauern. Der Kampf endete unentschieden.

Sie sind ein Abenteurer. Als solcher jedenfalls haben Sie sich selbst bezeichnet, als Sie 19-jährig in England gelandet sind.
Mit 16 Schilling in der Tasche. In London war ich ziemlich schnell in vielen Milieus unterwegs. Und dann nahm mich ausgerechnet eine extrem christliche Quäkerfamilie an Kindes statt auf. Ich studierte, bis ich eine Anzeige las nach Hitlers Einmarsch in Prag im März 1939: Die BBC suchte Redakteure mit Fremdsprachenkenntnissen. Man nahm mich neben vielen anderen, weitaus gestandeneren älteren Anwärtern. Auch wieder so ein Glück. Ich sei ein komischer Vogel, hieß es.
Sie können viele Sprachen sprechen, sind mit den Eltern in die Schweiz, nach Italien gereist, 1937 gar noch mit dem Vater durch Deutschland bis nach Norwegen. Er wollte Ihnen eine “sonnige Jugend” schenken, das schrieb er, bevor er starb. Aber Englisch konnten Sie nicht. Warum England?
Die Länder, die ich kannte, ließen 1938 niemanden mehr hinein. Man konnte nur noch nach Shanghai oder Paraguay. England ließ nur Leute mit Devisen und einem Berufsprofil einreisen. Meinen Eltern war alles genommen worden, mein Vater saß zudem im Gefängnis. Vor dem englischen Passbeamten standen also ich und meine Mutter, und wir hatten nur ein Empfehlungsschreiben eines englischen Bekannten einer meiner Lehrer auf der Wiener Diplomatenschule. Der Beamte meinte, das reiche nicht und wollte uns schon wegschicken, da bekam meine Mutter einen Weinkrampf. Er entriss mir daraufhin ungehalten den Pass und sagte “Also schön!” und gab mir ein Transmigrationsvisum, das nur drei Monate galt.

Sie hatten ungeheures Glück, konnten sogar später die Eltern nachholen.
Heute, fast 70 Jahre später, weiß ich das umso mehr zu schätzen. Ein großes Glück.

Was bedeutet das Jüdischsein für Sie?
Ich bin an erster Stelle Jude. Das hat mit dem Zugehörigkeitsgefühl, dem Stammesgefühl zu tun, eine tiefe, historische Verbundenheit. Ich bin Jude, Brite, Europäer und leidenschaftlicher Transatlantiker.

Hatten Sie nie Feinde?
Aber sicher. Ich bin eben nicht politisch korrekt. Ich bin für Amerika, ich glaube an den gerechten Krieg gegen den Irak. Manchmal schweige ich, weil ich nicht ununterbrochen Streitgespräche mit Menschen führen will.

Sie sind ein leidenschaftlicher Zionist.
Mich hat der Zionismus in eine Seelenverfassung gebracht, die mir mein Leben lang half. Noch in Wien erlebte ich eine Versammlung, wo man sagte: “Die Hitlers kommen und gehen, aber die Juden bleiben als Volk.” Das hat mich unerschütterlich gemacht. Ich spreche mit Feinden, ohne emotional berührt zu sein. Teddy Kollek saß auch stundenlang mit Eichmann zusammen und sprach mit ihm über die Judentransporte. Und er brach auch nicht zusammen. Ich habe, um Bücher zu publizieren, manchmal dunkle Kanäle wählen müssen. Ich traf auf Kreaturen, die ich als Zeugen brauchte. Aber das war für mich kein Problem. Ich wusste, wer ich war, wo ich war.

Wie haben Sie Antisemitismus erlebt?
Antisemitismus ist wie eine Erkältung. Man stirbt nicht an ihr, aber man wird sie nie los. Sie kommt immer wieder.

Warum sind Sie, der Sie die Entstehung des Staates Israel als Berater des ersten Präsidenten Weizmann hautnah erlebten, 1948 nicht dortgeblieben?
Ich hatte mit finanzieller Hilfe anderer einen Verlag gegründet. Der Vater meines Partners Nigel Nicolson sagte: “Gehe für ein Jahr, gib mir dein Ehrenwort, dass du danach wiederkommst.” Ob ich unter anderen Umständen geblieben wäre? Ja, wahrscheinlich. Ich wäre dort glücklich geworden. Für einen jungen Menschen war ich im Range eines Staatssekretärs – so wie Schimon Peres damals im Verteidigungsministerium. Ich habe die ganze Elite kennengelernt. Kollek, Dajan, Meir, Rabin, Peres, Scharon, alle. Vom ersten Augenblick an. Ich habe Vertrauen erworben, das bis heute gilt. Mit Helmut Kohl habe ich im Auftrag Baraks über Israels Sicherheitsprobleme gesprochen, im Vorfeld des Sechstagekriegs hatte ich eine Mission zu Franz Josef Strauß. Zurückschauend war es gut, dass ich ging. Vielleicht habe ich dem Staat Israel mehr gedient, als wenn ich dort geblieben wäre. Ich bin eher ein Mann im Hintergrund.

Die Politik hat Sie nicht gereizt?
Ich habe so viele erlebt, die glaubten, in die Sphäre der Politik wechseln zu können. Weit gefehlt. Wenn es um die Schlüsselpositionen geht, obsiegen die Apparatschiks. Man muss sich von Anbeginn an der Politik weihen.

Sie haben viele große Politiker erlebt. Was bleibt im 21. Jahrhundert?
Die Politik denkt zu kurzfristig. Demokratie bedeutet leider auch, innerhalb einer Woche enorm viele Punkte an Popularität einzubüßen. Ich denke oft an Tschou En-lai, der auf die Frage, was er von der Französischen Revolution halte, zu Kissinger gesagt haben soll: “Es ist zu früh, darüber zu richten.” Deswegen kann man jetzt noch nicht über den Irak urteilen. Meine Überzeugung ist, dass es sich zeigen wird, trotz aller Fehler, die gemacht wurden: Die Intervention gegen Saddam Hussein war notwendig. Denn wir befinden uns in einer Art Drittem Weltkrieg. Was heute im Irak, Iran oder in Afghanistan geschieht, ist die Folge des Kollapses der säkularen Heilslehren: Kommunismus, Faschismus, aber auch Krisen der Demokratie und des Liberalismus.

Sie zweifeln an der Demokratie?
Sie ist nicht wetterfest fürs 21. Jahrhundert. Transparenz in einem Krieg bedeutet, dass der Gegner alles weiß. Alle Debatten, die der Westen führt, werden in den Medien, Print und Online, offenbart. Das ist ein tägliches Dilemma. Ich habe keine Antwort, denn natürlich bin ich ein Demokrat. Aber wir sind in einem psychologischen Krieg gegen einen unbarmherzigen Feind. Wie sollen wir diesen Kampf gewinnen?

Das starke Israel, das wehrhafte, dessen Entstehen Sie erlebten, ist in einer Krise, vielleicht auch, weil es eine Demokratie ist?
Da bin ich etwas optimistischer. Die Israelis haben gelernt, gefährlich zu leben. Israel ist wirtschaftlich in einer starken Position.

Haben Sie eine Freundschaft zu Palästinensern?
Ich hatte ein gutes Verhältnis zu Feisal Husseini. Ich sage “hatte”, denn selbst er, der als vernünftiger Mann galt, war doch immer ambivalent. Kurz vor seinem Tod sagte er zu libanesischen Juristen, die Lösung des Problems bestehe aus zwei Phasen, dem Zweistaatenmodell und durch die Bevölkerungspolitik der Palästinenser dann doch irgendwann endgültig dem einen Palästinenserstaat. Das war der Gemäßigte von allen! Jemand, mit dem ich aß und trank. Und das hatte er dann doch im Hinterkopf.

Sind Sie islamophob?
Wenn in Europa mehr Muslime leben, damit habe ich kein Problem, aber der Geist muss stimmen. Ich will wissen, ob ein Muslim gemäßigt, ein Liberaler sein kann. Vielleicht gibt es irgendwann eine wahre, aufgeklärte Strömung, die ehrlich den Glauben anderer respektiert innerhalb des Islam. Momentan ist er leider sehr starr und monochromatisch.

Sie haben das Jahrhundert der Extreme am eigenen Leib erlebt: Ihre Lebenserfahrung sagt, hier ist eine Schlacht, und der Westen droht sie zu verlieren?
Daran denke ich unentwegt. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an Spengler und Toynbee denke. Als Knabe las ich in Wien historische Romane. “Ein Kampf um Rom”, Felix Dahm, welchen Eindruck er mit seinen sechs Bänden hinterließ! Es ist die Geschichte der Ostgoten. Auf der anderen Seite die Byzantiner. Wie gehen Reiche zugrunde? Mich beeindruckte auch Eduard Stuckens “Die weißen Götter” – dieses Buch kann ich heute noch memorieren. Wie 600 spanische Glücksritter unter Cortés ein ganzes Reich zerstörten. Diesen wenigen gelang es, ein Riesenreich voller Kultur zu zerstören. Was machte es hinfällig? Die katholische Kirche machte die Indios zu Katholiken, Hunderte Jahre später spülte sich die Indioseele an die Oberfläche der Geschichte zurück. Toynbee nennt das: “withdrawal and return” – Rückzug und Wiederkehr.

Seit wann denken Sie so? Kommt das mit dem Alter?
Es nahm zu nach dem Fall der Mauer. Ich hatte auf eine neue Generation gehofft, die die Welt besser machen würde. Heute weint man Tränen über “Das Leben der Anderen”, und im gleichen Atemzug spricht Putin von seinem Stolz auf den KGB. Wo leben wir?
Putin ist der Autokrat, der aus Fehlern lernte. Er nimmt hemmungslos das Wort “Demokratie” in den Mund.
Seine engsten Berater sind alles KGBler. Die SS hatte neben den KZ-Schergen auch eine intellektuelle Elite, die sich nicht zeigte. Im Geheimdienst findet man neben brutalen Mördertypen auch raffinierte Intellektuelle. Je älter ich werde, desto langfristiger denke ich und umso intoleranter werde ich. Die, die das nicht verstehen, ärgern mich. Ich habe ein großes Misstrauen gegenüber dem Tagespolitiker.

Fürchten Sie eine Rückkehr des Nationalsozialismus unter anderen Vorzeichen?
Ich fürchte, Nationalsozialismus und Kommunismus könnten wiederkehren. Sie werden sich bewusst gegen die Vorbilder stellen und sagen: Wie mangelhaft waren diese Propheten. Sie haben einen Kern berührt, aber wir werden es besser machen. In Moskau hatte ich einen jungen russischen Nationalsozialisten kennengelernt. Aus Neugierde verbrachte ich einen Abend mit ihm. Ich will immer wissen, wie der Feind denkt. Er sagte, angeheitert, blond, zwei Meter groß, ein Kerl von einem Mann: “Hitler ist nicht unser Prophet. Er hat gravierende Fehler gemacht. Er hat nicht eingesehen, dass wir Nordrussen Wikingersprosse sind. Deswegen konnte er nicht die Welt retten.”

Was ist der zentrale Wert aus Ihrem gelebten Leben?
Neugierde. Sie bringt Toleranz. Und die heißt nicht, alles mitzumachen. Sondern ein unabhängiges, auch hartes Urteil zu treffen. Respekt ist vielleicht das bessere Wort. Denn Toleranz beinhaltet jenes: Ich bin der Bessere und erlaube dir generös dein Anderssein. Es kommt aus dem Mittelalter. Jedes Jahr empfing der Papst die jüdischen Gemeinden Roms, und der führende Rabbiner gab ihm eine Thorarolle als Geschenk. Der Papst nahm es an und sagte: Toleramus sed non acceptamus. Das ist der Sinn von Toleranz. Oft ist das missverstanden worden.

Ihr Gedächtnis ist phänomenal. Was haben Sie am 9. November 1989 gemacht?
Ich saß in einem Münchner Hotel und sah im Fernsehen den Mauerfall. Mich interessierte die Musik. Das Programm bestand aus einem Potpourri verdischer Opern. Ich hätte gedacht: Haydn oder Händel. Oder Beethoven. Doch die jungen Leute auf der Mauer tanzten Tango.

Was ist der größte Fehler der Deutschen?
Dass sie sich in Europa zu verstecken versuchen. Es ist ja richtig, man ist Europäer, aber man ist auch Deutscher. Sie müssen ihr Deutschsein, ihr Erbe, die Linien ihrer Kultur, wieder erlernen. Vor allem müssen Historiker beweisen, dass der Nationalsozialismus vermeidbar war. Davon bin ich zutiefst überzeugt, schaut man sich die Jahre 1931 bis 1933 an. Hitler hatte die Wahlen 1932 verloren, war pleite, konnte die SA nicht bezahlen. Hätte es nicht die Intrigen um Papen, Hindenburg und andere gegeben, er wäre ein Le Pen plus geblieben. Das war ein großes, tragisches Missverständnis. Dass nun alles auf Hitler hinausgelaufen sein soll, von Barbarossa, Karl dem Großen, als unvermeidliches Ende der deutschen Geschichte, ist eine frevelhafte Interpretation.
Eine Interpretation, die man den 68ern zuschreibt.
Viele der Linksintellektuellen haben eine Riesenschuld auf sich geladen, dass sie dies immer noch prolongieren. Sie sind die fünfte Kolonne, in gewisser Weise auch ein Feind im Innern, weil sie so asymmetrisch denken. Wer kann heute sagen: Hände weg von Saddam, Bush ist ein Faschist? Regimewechsel ist heute ein Verbrechen, wo sie ihren Vätern vorwerfen, sie hätten nichts gegen Mussolini und Hitler getan.

Wie haben Sie 1968 erlebt?
Ich habe mich mehr um das Phänomen Dubcek in der CSSR gekümmert. Ich wollte hinter den Eisernen Vorhang blicken. Wir haben milde gelächelt und alles geduldet: Che Guevara, Dutschke, Cohn-Bendit.
Gunter Sachs sagte, er hätte alles gehabt, außer einer Tochter. Was ist Ihr unerfüllter Wunsch?
Ich denke eher: Wenn ich noch einmal… Ich habe eine sehr glückliche, aber späte Ehe nach drei Schiffbrüchen. Es gibt ganze Sphären, in denen ich Fehler machte. Ich habe zwei Bilder zu früh verkauft: einen Goethe von Warhol und einen Papst von Bacon. Ich brauchte den Platz für andere Bilder, und man flüsterte, die Preise würden sinken. Bei Bacon vertausendfachte sich der Preis bis heute. Das passiert im Leben.

Sie waren immer auch ein Mann, der die Frauen als Kulturträgerinnen begriffen hat.
Ich fand es viel leichter, mich mit Frauen zu befreunden als mit Männern. Ich bin kein Männerbündler, englische Klubs nur für Männer haben mich nie angezogen. Die Frau ist für mich ein Kunstwerk. Sie ist anders motiviert, man kann sich vertraulich unterhalten. Die wirklich wichtigen Figuren in meinem Leben waren Schwesterfiguren. Immer gehen Geschichten und Manieren, Verhaltenskodizi durch das Nadelöhr einer interessanten Frau.

Was ist der Pädagoge in Ihnen?
Ich liebe es, mit jungen Leuten über Geschichte zu sprechen. Da denke ich ganz oft an Sir Isaiah Berlin. Er war einer meiner Mentoren. Und ich denke an meinen Vater. Er konnte als Latinist unglaubliches Interesse erwecken.

Denken Sie mehr an Ihre Eltern als früher?
Ja. Ich denke anders über meine Jugend nach. Das Altern bringt ein großes Problem mit sich. Man findet immer weniger Menschen, mit denen man Erinnerungen austauschen kann.
Sie sind vielen Menschen begegnet. Freundeskreise sind aber begrenzt.
Intimität ist etwas sehr Kompliziertes. Man kann sehr intim mit jemandem befreundet sein, es bleibt dennoch zweidimensional. Man kann über gewisse Dinge nicht sprechen. Das Dreidimensionale berührt die Herkunft und gemeinsame Erlebnisse. Wenn man so viel herumkommt wie ich, hat man keine Zeit für Vertiefung. Ich habe dennoch in den Schichten meines Lebens Freunde gewonnen. In jeder Stadt gibt es ein oder zwei Menschen dieser Art. Doch sie sind heute manchmal nicht mehr am Leben.

George Weidenfeld: Zeit seines Lebens voller Neugierde

Andrea Seibel interviewt George Weidenfeldt
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