G.M. Tamás: “Wir setzen uns nicht in den Viehwaggon!”

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übersetzt von Karl Pfeifer

Népszava, die linke Budapester Tageszeitung hat fünf Tage vor den Wahlen unter dem Titel „Wir setzen uns nicht in den Viehwaggon“ einen Artikel des Budapester Philosophen G.M. Tamás publiziert, der keine Wahlempfehlung gibt, sondern die Fehler aller Parteien aufzählt.

Hier einige Auszüge: „Ungarn stürzt sich, wie schon früher mehr als einmal, in eine nationale Tragödie. Das hat mehrere Elemente […] das wichtigste ist der Erfolg der postfaschistischen kriptohungaristischen [die mit den Nazi zusammenarbeitende Pfeilkreuzlerpartei nannte sich auch hungaristisch K.P.] Jobbik Partei. Dieser Erfolgt ist Audruck des Zerfalls der ungarischen bürgerlichen Demokratie. Die verschiedenen Meinungsforschungen zeigen eindeutig, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Illusionen, die sie über die liberale Demokratie und die kapitalistische Marktwirtschaft hatte, aufgegeben hat. Laut Meinungsforschung war für 72% unseres Volkes das Kádárregime wirtschaftlich und sozial besser, laut weiteren 16% war es nicht schlechter, d.h. lediglich 12% unserer Mitbürger glauben, dass das heutige System besser sei, das ist aber eine vernachlässigbare Größe. Gleichzeitig gibt es keine systemfeindliche Parteien, die Jobbik ist es auch nicht: Jobbik kritisiert genauso die „Auswüchse“ und „Verzerrungen“ wie seine Partner und Rivalen, nur dass es verschiedene Sündenböcke dafür verantwortlich macht, von deren Entfernung es das Eintreffen der allgemeinen Seligkeit erhofft. […]

Jobbik und seine Satelliten scheinen die physische Sicherheit, die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit zu gefährden.

Die Parteien, die in der Nähe der in jeder Hinsicht erfolglosen Regierungen der letzten acht Jahre stehen, beobachten erstarrt die Entwicklungen. Ihre Wahlkampagne ist erzwungen, an den Haaren herbeigezogen, ohne Überzeugung. Sie nehmen schon im vornhinein die Niederlage zur Kenntnis. Der Kampf erfolgt zwischen den wahrscheinlich siegreichen Fidesz-KDNP-Wahlblock und der Jobbik. Es könnte der Eindruck entstehen, dass schlussendlich auch die national konservative Seite einen antifaschistischen Kampf begonnen hat. Dieser Eindruck ist falsch.

Die rechte Presse beanstandet bei dem Mitglied des Europäischen Parlaments und postfaschistischer Staatspräsident-Kandidatin, Krisztina Morvai, nicht dass sie JETZT antisemitisch, chauvinistisch und antifreiheitlich ist, sondern, dass sie FRÜHER liberale Feministin war, dass sie FRÜHER eine bürgerlich demokratische Regierung (Medgyessy) und eine bürgerlich demokratische Partei (der SZDSZ) beraten hat. Die rechte Presse beanstandet beim postfaschistischen Abgeordneten Kandidaten Sándor Pörzse, dem ehemaligen Programmleiter eines rechtsextremistischen Schundfernsehens, nicht dass er JETZT eine Art pfeilkreuzlerischer Hetzer ist, sondern dass er FRÜHER teilnahm an der Kampagne einer bürgerlichen demokratischen Partei (MSZP). Die rechte Presse beanstandet bei László Nyikos, dem Finanzministerkandidaten der Jobbik nicht dass er sich jetzt zu einer kriptohungaristischen Partei hingesellt hat, sondern dass er FRÜHER MSZMP Mitglied und dann Würdenträger des bürgerlich demokratischen staatlichen Rechnungshofes war. […]

Die rechte Presse beanstandet nicht beim Ministerpräsidentkandidaten Gábor Vona, dass er eine Pfeilkreuzlerpartei anführt und der Präsident einer verbotenen und trotzdem funktionierenden rechtsextremen Sturmabteilung der Ungartischen Garde ist, sondern dass er angeblich sich in eine Frau aus seiner Partei verliebt hat (was noch Vermutung und politisch sowieso nicht zählt)

Die rechte Presse beanstandet nicht bei András Király dem bereits zurückgetretenen Sprecher von Jobbik, dass er mit seinen hasserfüllten Schwätzereien die Luft verdorben hat, sondern dass er IRGENWANN mal in einer besoffenen Gesellschaft mit Transvestiten geblödelt hat. Mit anderen Worten, die Presse von Fidesz-KDNP beanstandet nicht, dass die führenden Personen von Jobbik Pfeilkreuzler sind, sondern kichert darüber, dass sie das nicht immer waren. Sie kritisieren nicht die Politik der Jobbik Anführer, sondern beanstanden ihr Privatleben, das niemand etwas angeht. Das ist kein Antifaschismus, sondern die übliche (wenn auch außerordentlich grobe und ordinäre) desavuierende Kampagne, ohne jeglichen politischen Inhalt.

Das ist nicht Antifaschismus, sondern das geschickte Vermeiden der Konfrontation mit dem Faschismus und die pfiffige Beruhigung einer öffentlichen Meinung gegenüber den Faschisten – die es kaum gibt – und wiegt sie in einer falschen Sicherheit. An der Front der gegen Jobbik gerichteten Kampagne stehen extrem rechte Intellektuelle und Journalisten. Das signalisiert, dass es keine Schwierigkeiten gibt mit neonazistischen Inhalten, sondern dass sie deren Stimmen brauchen. Es ist ein reiner Kampf um die Macht und hat keine weltanschaunliche Bedeutung.

Es ist wahr, es haben auch anständige konservative Intellektuelle gesprochen, doch ihre Gedanken werden nicht sehr verbreitet. Der offene Brief des Mitglieds der Akademie der Wissenschaften István Klinghammer und anderer (wie der ehemalige Außenminister G. Jeszenszky) wurde vorläufig nur von Népszabadság publiziert. Im übrigen berührt dieser Brief leider nicht das Wesentliche, so verlangt er nicht von Viktor Orbán, der wahrscheinlich Ministerpräsident wird, sich zu verpflichten die von der faschistoiden Welle bedrohten Minderheiten (Roma, Juden, Homosexuélle usw) und politische Gegner zu schützen. Er kann das auch kaum tun, ist doch der Kernpunkt der von den Unterzeichneten unterstützten Fidesz-KDNP Wahlstrategie die dunkle Drohung mit einer Abrechung.

Glaubhafter Antifaschismus erscheint nur in Spuren, und gerade deswegen verdient er unsere Achtung. Die unabhängige Bewegung „Es lebe Nyiregyháza“ hat unter der Führung es unabhängigen lokalen Abgeordneten Károly Lengyel die einzige Demonstration gegen Jobbik durchgeführt, sie hatten eine Tafel hochgehalten: „WIR SETZEN UNS NICHT IN DEN VIEHWAGGON“ [damit erinnerten sie an die Tatsache, dass die Horthy-Administration im Frühjahr 1944 nach der deutschen Besatzung mehr als eine halbe Million ungarischer Staatsbürger in Viehwaggons deportieren liess] Und dass nur der Bürgermeister von Eperjeske (Komitat Szabolcs-Szatmár) abgelehnt hat ein öffentliches Gebäude Jobbik zur Verfügung zu stellen. Und Ehre dem Mitglied der Akademie der Wissenschaften Zsuzsa Ferge und ihren Freunden, eine kleine Gruppe von Intellektuellen, die sich mit jungen antisemitischen Demonstranten in Makó auseinandersetzten.

Es gibt immer mehr judenfeindliche Zwischenfälle, die Wände und das Internet sind voll mit rassistischen Sätzen. Sonst ist es ruhig.

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G.M. Tamás: “Wir setzen uns nicht in den Viehwaggon!”

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