Daniela Fuchs: Wie Lava ist das Volk

Vor 40 Jahren: Die Märzunruhen in Polen
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Als »März der Schande« gingen die unrühmlichen Ereignisse vor 40 Jahren in die Geschichte Polens ein. Vielfältig waren die Ursachen. Zum einen hatten wirtschaftliche Schwierigkeiten seit Mitte der 60er Jahre politische Unzufriedenheit genährt. Wladyslaw Gomulka, 1956 noch mit großem Jubel der Bevölkerung und dem Versprechen, Reformen durchzuführen, an die Spitze der PVAP zurückgekehrt, ließ zunehmend Führungsschwäche, Ratlosigkeit und wachsendendes Misstrauen erkennen. In den Fraktionskämpfen innerhalb der Partei- und Staatsführung ging es nicht nur um Posten, sondern auch darum, welcher Weg zur Verbesserung der Lage zukünftig eingeschlagen werden sollte. Innenminister Mieczyslaw Moczar, dem auch der Geheimdienst unterstand, besaß das Monopol an Informationen und setzte es geschickt zur Meinungsbildung ein, wobei er sich auch nationalistischer Demagogie bediente. Unterstützung erhielt er vom mitgliederstarken Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie, ein Verband ehemaliger Partisanen, dessen Vorsitzender er war.

Zum anderen hatte es nach dem Sechs-Tage-Krieg Israels gegen Ägypten im Juni 1967 in der polnischen Bevölkerung vereinzelte Sympathiebekundungen für den jüdischen Staat gegeben. Moczar schlug daraufhin antisemitische Töne an, verbrämt unter der Losung Kampf gegen den Zionismus. In gleichen Duktus war das Buch von Tadeusz Walichnowski »Israel und die Bundesrepublik« gehalten, das 1968 auch auf Deutsch und in der DDR zu haben war. Der Autor warnte darin vor der Gefahr der sogenannten zionistischen Weltbewegung.

Irritierend war aber vor allem die über Fernsehen und Rundfunk ausgestrahlte Rede Gomulkas am 19. Juni 1967 vor den Delegierten des VI. Gewerkschaftskongresses in Warschau. Auf die Situation im Nahen Osten eingehend, nannte er die jüdische Bevölkerung Polens eine »Fünfte Kolonne«: »Ich vermute, dass diese Kategorie der Juden eher oder später unser Land verlassen wird. Wir sind gern bereit, denjenigen, die Israel für ihre Heimat halten, Exilpässe auszustellen«, sagte der Chef der PVAP. Obwohl am nächsten Tag der Begriff »Fünfte Kolonne« in den Presseorganen nicht mehr auftauchte, war für Edward Ochab, damals Staatsratsvorsitzender, klar, dass es hier nicht allein um eine Formulierungsfrage ging; bald darauf gab er aus Protest alle seine Ämter auf. Auch Außenminister Adam Rapacki resignierte und zog sich im Dezember 1968 aus der Politik zurück.

Mit der Rede Gomulkas war eine zweifelhafte Argumentationslinie aufgebaut. Die Juden Polens waren in der Gesellschaft assimiliert, viele sich ihrer jüdischen Herkunft gar nicht mehr bewusst. Nun aber sahen sie sich bösartigen Verdächtigungen (bis hin zu angeblicher Steuerhinterziehung) und Diskriminierungen ausgesetzt. Säuberungswellen erfassten zuerst die Armee und den Staatlichen Wissenschaftsverlag. Es kam zu unseligen Denunziationen; manch nichtjüdischer Bürger glaubte, nunmehr »alte Rechnungen« aus der unmittelbaren Nachkriegszeit begleichen zu müssen. Selbst das Mitglied des Politbüros und Verteidigungsminister Marian Spychalski musste sich übler Anschuldigungen erwehren. Grundlos wurden aufrechte Genossen aus der Partei ausgeschlossen und verloren ihre Arbeit. Am 18. Oktober 1967 schrieb der Chefredakteur der Zeitschrift »Polityka«, Mieczyslaw Rakowski, in sein Tagebuch: »Am Ende dieses Prozesses werden wir im Neostalinismus aufwachen.« Gleichzeitig beklagte er, dass sich an der fatalen wirtschaftlichen Situation nichts ändere. Am 6. Dezember fragte er verbittert: »Wohin streben wir? Sicher zu einem ›sauberen‹ Nationalstaat.«

Für zusätzliche Aufregung sorgte im November 1967 eine Inszenierung am Nationaltheater in Warschau. Regisseur Kazimierz Dejmek hatte zu Ehren des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution das Stück »Die Totenfeier« des Nationaldichters Adam Mickiewicz auf die Bühne gebracht, das sich gegen die zaristische Fremdherrschaft während der Teilung Polens zwischen Preußen, Österreich und Russland richtet. Assoziationen zur Gegenwart sprangen ins Auge; Sätze wie »Wie Lava ist das Volk« erschienen subversiv. Dejmek wurde vorgeworfen, seine Interpretation des Stücks trage antisowjetischen Charakter. So wurde es kurzerhand abgesetzt.

Im Anschluss an die letzte Vorstellung demonstrierten am 30. Januar 1968 die Studenten vor dem Theater und dem Mickiewicz-Denkmal in der Warschauer Altstadt. Miliz löste ihre Protestkundgebung gewaltsam auf, die Organisatoren Adam Michnik und Henryk Szlajfer wurden von der Universität verwiesen. Nun entspann sich eine kontroverse Diskussion zu Meinungs-, Pressefreiheit, Zensur und Verantwortung von Künstlern im Sozialismus. Die außerordentliche Generalversammlung der Warschauer Abteilung des Polnischen Schriftstellerverbandes verabschiedete am 29. Februar 1968 mehrheitlich eine Resolution, die u. a. die Wiederaufnahme der »Totenfeier« in den regulären Spielbetrieb forderte und sich die Einmischung der Behörden in kulturellen Dingen verbat. Die Stimmung heizte sich weiter auf. Am 8. März gingen Warschaus Studenten, getragen von den Ideen des soeben begonnenen »Prager Frühlings«, erneut auf die Straßen. Die polnische Studentenrevolte breitete sich innerhalb von drei Wochen über das ganze Land aus, blieb jedoch gesellschaftlich isoliert. Es gab sogar inszenierte Gegenkundgebungen von Arbeitern. So konnten die Ordnungskräfte die Protestbewegung zerschlagen. Sympathisierende Professoren und Dozenten fielen einem Kaderaustausch zum Opfer, darunter der Philosophieprofessor Leszek Kolakowski.

In den folgenden Jahren verließen nahezu 20 000 Polen jüdischer Herkunft ihre Heimat, die meisten auf Druck der Behörden. Zu ihnen gehörten u. a. der Philosoph Adam Schaff, der Schriftsteller Slawomir Mrozek und der Filmexperte Jerzy Toeplitz. Der Zeitungsredakteur Leopold Unger bat für sich und seine Familie um schnelle Ausreise, denn seine Frau habe das KZ Majdanek überlebt und sei psychisch und physisch nicht in der Lage, die antisemitisch angehauchte Atmosphäre in Polen zu ertragen. Der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski klagte an, dass breite Kreise der Gesellschaft antisemitisch infiziert seien; ohne die Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung hätte die Diffamierung polnischer Juden nicht gewagt werden können.

Moczars nationalistische Linie verursachte jedoch auch in Moskau zunehmend Unbehagen, man fürchtete ein Umschlagen in antisowjetische Stimmungen. So musste er schließlich seinen Ministersessel räumen. Zwei Jahre später, nach den Dezemberunruhen an der Ostseeküste, wurde Gomulka erneut gestürzt; Edward Gierek, ein Technokrat aus Katowice, übernahm die Führung der PVAP.

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