Bernard-Henri Lévy: Gaza-Konflikt: Ich gebe hier mein Zeugnis ab

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In das Innere des Konflikts: Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy fä...

In das Innere des Konflikts: Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy fährt zu den Soldaten nach Gaza

24. Januar 2009 Yovan Diskin ist der Chef des mystischen und gefürchteten israelischen Inlandsgeheimdiensts Shin Bet. Soweit ich weiß, hat er sich noch nie geäußert, jedenfalls nicht seit Kriegsbeginn.

Er ist um die vierzig, er ist groß, massiv. Eine militärische Statur, zu der die Jeans, das T-Shirt und Turnschuhe gar nicht recht passen wollen. Wir treffen uns im Morgengrauen. Sein Büro im Norden Tel Avivs wirkt mit diesen breiten Schießscharten wie ein Bunker.

„All das wegen Sderot?“, eröffne ich unser Gespräch. „Diese Sintflut aus Flammen, die Opfer, alles, um die Raketen auf Sderot und die anderen Städte und Kibbuzim im Süden zu stoppen?“

„Ja, natürlich“ antwortet er gereizt, „Kein Staat der Welt kann es tolerieren, täglich Geschosse auf die Köpfe seiner Bürger niedergehen zu sehen.“

Und weil ich gleich sage, dass ich das weiß und dass ich jeden Israel-Besuch in Sderot beginne, aus Prinzip und aus Solidarität, und weiter sage, dass es doch andere Wege gegeben haben muss zu verhandeln, um zu verhindern, dass es so weit kommen musste, da zuckt er komisch mit den Schultern und schlägt den Ton dessen an, der, weil es wohl unbedingt sein muss, nun in die Erläuterung der technischen Details einsteigt.

Das Netzwerk der dreihundert Tunnel

„Sie müssen begreifen, wer die Leute von der Hamas sind. Wir hier kennen sie besser als irgendjemand sonst. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir ihre kleinsten Überlegungen und Entscheidungen in Echtzeit nachvollziehen können, ihnen manchmal sogar vorgreifen. Und jetzt sind uns drei Dinge klargeworden.“

Man bringt ihm einen Becher Kaffee, den er in einem Zug leert.

„Zuerst mal ihre Strategie. Das ist die der Muslimbrüder, aus denen sie hervorgegangen sind und die langfristig die Machtübernahme im Libanon, in Jordanien und in Israel anstreben!“

Ich gebe zu verstehen, das wisse ich.

„Gut. Dann diese Allianz mit dem Iran, die wegen der tiefen Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten erst mal widernatürlich scheinen mag, die wir aber in ihrer Genese dokumentieren können.“

1993. Eine Konferenz der Ulema, Rechtsgelehrter aus Syrien, Saudi-Arabien, dem Westjordanland, Gaza. Der Initiator: der Ägypter Al Khardaui, Importeur der schiitischen Strategie der Selbstmordattentate auf sunnitischem Gebiet.

„Das Wesentliche war aber das Netzwerk der dreihundert Tunnel unter der ägyptischen Grenze. Jedes Mal, wenn wir Mubarak darauf ansprachen, schwor er, sich darum zu kümmern, aber nie passierte etwas. Er hat einfach zu große Angst davor, seine eigenen Muslimbrüder im Lande zu brüskieren.“

„Dieses Israel, das ihr zum Kotzen findet, das ist doch euer Staat“

Man kann nun wie die israelischen Pazifisten sagen, die Zerstörung der Tunnel hätte ausgereicht. Man kann, und das wäre meine Meinung, feststellen, dass nun, da die Welt von der Existenz des Tunnelnetzwerks weiß und Ägypten handeln muss, Israel das Feuer auch einstellen kann, und zwar mit dem Datum dieses Treffens, dem 11. Januar.

Man kann aber nicht die Tatsache, den Kontext des Konflikts ignorieren: Gaza nach dem Truppenabzug ist nicht der Embryo des so ersehnten palästinensischen Staats, es ist der Vorposten eines totalen Kriegs gegen den jüdischen Staat.

Ich fahre nach Baka El-Garbil, in der Nähe von Um al Fahim, einer Stadt von Arabern in Israel, jener, die 1948 dageblieben sind und heute, sechzig Jahre später, zwanzig Prozent der Einwohner ausmachen. An diesem Nachmittag sind alle auf der Straße, fünfzehntausend protestieren gegen den „Genozid“ in Gaza. Ich sehe Aktivisten mit dem schwarzweißen Tuch der Fatah, andere schwenken die grüne Fahne der Hamas. An der Spitze des Zuges sehe ich sogar maskierte junge Männer, die zum Dschihad, zur Intifada und zum Märtyrertod aufrufen.

„Dieses Israel, das ihr zum Kotzen findet, das ist doch euer Staat“, frage ich einen von denen. „Ihr seid doch Bürger dieses Staates, mit den gleichen Rechten und Pflichten wie alle anderen?“

Die Skrupel Asafs

Er sieht mich an, als sei ich verrückt. Er sagt, dass Israel ein rassistischer Staat sei, der es ihm verwehre, die Universität zu besuchen oder einen Club. So ein Staat könne von ihm keine Treue erwarten. Dann lässt er mich stehen und kehrt zu seinen Genossen zurück. Es ist schon eine besondere Demokratie, die in Kriegszeiten damit zurechtkommt, dass sich ein Fünftel ihrer Bevölkerung am Rand der Sezession bewegt. Man kann sich schwindelerregend vorstellen, dass sich das soziale Band im Inneren auflöst. Anderer Kontext? Nein, das ist die Situation Israels.

„Nichts rechtfertigt den Tod eines Kindes“, sagt Asaf, der Anfang dreißig ist, in New York ein Restaurant hat und seinen Reservedienst als Pilot eines Cobra-Hubschraubers versieht. „Wenn ich sehe, dass ich bei meinem Einsatz statt eines militärischen Ziels auch Zivilisten treffen könnte, breche ich die Mission ab und kehre zum Stützpunkt zurück.“

Ich habe Asaf aufgefordert zu beweisen, was er da sagt. So kommt es, dass ich mich in Palmachim wiederfinde, dem Allerheiligsten der israelischen Militärtechnologie. Hier wurden die Antiraketenraketen Arrow getestet. Nun sehe ich hier Asafs Bordvideoaufnahmen. Ich höre seinen Funkverkehr vom 3. Januar, in dem man ihm befiehlt umzukehren, weil sein Ziel, der Terrorist, von einem Kind begleitet wird. Ich sehe vier dieser unglaublichen Filme, auf denen bereits abgefeuerte Raketen auf ein braches Feld umgelenkt werden, weil im letzten Moment ein Zivilist im Bildschirm erscheint oder das anvisierte Auto in die Tiefgarage eines Hauses fährt, dessen Bewohner nicht gewarnt wurden.

Ich ahne, dass nicht alle dieselben Skrupel haben wie Asaf, wie soll man sonst die viel zu zahlreichen und völlig unakzeptablen Blutbäder erklären? Aber dass es in den israelischen Streitkräften einen Asaf gibt und dass deren Richtlinien seine Haltung eher stützen, dass Asaf nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, darauf hinzuweisen ist wichtig, weil es dem Klischee zuwiderläuft, nach dem diese Armee ein Haufen von Schlägertypen sei, die nur auf Frauen und Greise losgehen.

Das Telefon klingelt. Condoleezza Rice ruft an

Ehud Barak zu Hause. Gestern habe ich ihn in Palmachim inmitten seiner Generäle gesehen. Heute treffe ich ihn in seinem Wohnzimmer, das ganz um zwei Klaviere gebaut worden zu sein scheint, auf denen er virtuos spielen kann. Er beschreibt das moralische Dilemma seiner Truppen. Er beschreibt das Kalkül der Hamas, die die Vorgehensweise der Israelis genau kennt und ihre Waffen darum in einem Schulhof, einem Krankenhaussaal oder einer Moschee lagert.

„Zwei Möglichkeiten“, erklärt er mir in einem Ton, in dem sich, ich könnte es schwören, so etwas wie Neugier, die Neugier eines Strategen auf eine unerhörte Taktik findet. „Entweder wir sind rechtzeitig informiert und schießen nicht, dann haben sie gewonnen. Oder wir kennen das Umfeld nicht und schießen doch, dann filmen sie die Opfer, schicken die Bilder an die Sender, und dann haben sie ebenfalls gewonnen.“

Ich möchte ihn fragen, wie er, der Mann, der als Taube in Camp David vor neun Jahren bereit war, Arafat den Schlüssel eines palästinensischen Staates auszuhändigen, den dieser dann ablehnte, ganz persönlich das Dilemma erlebt. Und ich würde ihm gern aufzeigen, dass Israel nicht in diesem Dilemma stecken würde, hätten die folgenden Regierungen nicht so blind gehandelt, hätten sie nicht so viele Gelegenheiten verstreichen lassen und falsche Schritte unternommen.

Aber das Telefon klingelt. Condoleezza Rice ruft an, um auf einen raschen Waffenstillstand zu dringen. Warum so schnell? Der Minister und Pianist lächelt. Weil es auf zehn Tage ankommt, ob der Waffenstillstand ihr Werk ist oder das des anderen Barack, Obama nämlich, der ihr ihre Legacy wegschnappen könnte.

Das Gift der Konjunktive und vorsichtigen Formulierungen

Amos Oz ist erschüttert. Ich treffe ihn bei unserem Freund Schimon Peres. Der große Schriftsteller, Gewissen seines Landes und der Friedensbewegung, erinnert sich an die Vorwürfe, die man der Armee nach dem „Genozid von Jenin“ gemacht hat, wo sechsundsechzig Menschen starben, darunter dreiundzwanzig Israelis. Im Libanon-Krieg gab es dann das Drama von Kana, das Remake, so meinen Einzelne, des Aufstands des Warschauer Gettos.

Wir reden über die fürchterlichen Waffen, die die israelische Armee einsetzen soll und die den Effekt haben, alle Luft aus der Umgebung des Einschlags aufzusaugen. Das Gerücht des Tages ist aber dieses Haus in der Umgebung von Zeitoun, in das man hundert Leute gelockt hätte, um dann das Feuer zu eröffnen. Das scheint ihm so unsinnig, dass er gar nicht weiß, woher es kommen mag, noch, was er davon halten soll.

Es begann mit einer vagen Zeugenaussage, die eine Nichtregierungsorganisation aufgenommen und verbreitet hat. Journalisten verlangten daraufhin, zugelassen zu werden, „sonst sei solchen Gerüchten nicht beizukommen“. Danach ist das globale Mediendorf durchgedreht: Die israelische Armee soll…, hätte…, Doktor X habe bestätigt… Ach, das Gift der Konjunktive und vorsichtigen Formulierungen.

Zwei Tage später ist von Zeitoun nicht mehr die Rede. Was schließt die Welt daraus? Dass das Gerücht absurd war? Oder dass, weil ein Grauen das andere jagt, die israelische Armee eben eine neue Qualität des Verbrechens erreicht hätte? Oz ist der israelische Camus, die Desinformation ist der hebräische Sisyphus.

Ich wollte wenigstens mal hinfahren und nachsehen

Ein anderes Gerücht, dessen Unwahrheit ich selbst sehen konnte, war das von der humanitären Blockade. Ich erwähne jetzt nicht das Beispiel des Shiba-Krankenhauses in Tel Aviv, in dem siebzig Prozent der Patienten Palästinenser sind, wie mir der stellvertretende Leiter Raphi Walden sagt. Ich gehe nicht auf die Fälle der von der israelischen Armee versehentlich beschossenen Krankenwagen ein, die von dem Gesundheitsministerium der Hamas daran gehindert wurden, ins Soroka-Krankenhaus nach Beer Sheba zu fahren. Die entscheidende Information erhalte ich am 14. Januar am Kontrollpunkt von Kerem Shalom, im Süden des Gazastreifens. Jeden Tag passieren ihn Hunderte Lastwagen, genau beobachtet von Vertretern der Nichtregierungsorganisationen: Mehl, Medikamente, Babynahrung, Decken.

Nichts, niemand, schon gar nicht ein humanitäres Pflaster kann das Leid einer Familie lindern, in der jemand ums Leben kam. Aber die Fakten sind die Fakten: Mehr als zwanzigtausend Tonnen sind unter der Schirmherrschaft der Unicef oder des World Food Program nach Gaza geliefert worden, seit der Militäreinsatz begann. Oberst Jehuda Wintraub, in einem anderen Leben Autor einer Dissertation über Chrétien de Troyes und nun mit sechzig in der Koordination der Hilfe tätig, sagt es am treffendsten: „Der Krieg ist immer furchtbar, kriminell, tobt blindwütig. Warum muss man all seinen Greueln noch die Lüge hinzufügen?“

In Paris wird der Ton schärfer. Jean-Marie Le Pen erklärt, dass Gaza ein Konzentrationslager sei. Und auf der Seite der radikalen Linken ist zu hören, nie habe es ein solches Massaker an Muslimen gegeben wie in Gaza. Und die dreihunderttausend in Darfur, Genossen? Und die zweihunderttausend Bosnier? Und die Zehntausende von Tschetschenen, die Putin „bis in die Klos abknallen“ wollte und um die ihr keine Träne geweint habt? Ich wollte, im Gegensatz zu euch, wenigstens mal hinfahren und nachsehen.

Am 13. Januar, einem Dienstag, es dämmerte, bin ich in einen Vorort von Gaza- Stadt gefahren, nach Abasan Al Jadida, ein Kilometer nördlich von Khan Younès – mit einer „Golani“-Eliteeinheit der israelischen Armee, „embedded“. Das ist, ich weiß es, weil ich mein Leben lang darauf verzichtet habe, nie der richtige Standpunkt. Und ich will gar nicht erst behaupten, in diesen wenigen Stunden den Geist dieses Krieges begriffen zu haben. Aber ich gebe hier eben mein Zeugnis ab.

Die Doppelrolle Mubaraks

Die Kämpfer von Warschau verfügten leider nicht über solche Antipanzerminen wie jene, die vor dem Fahrzeug explodierte, das ungefähr zwanzig Minuten vor uns fuhr. Und die Angreifer damals waren nicht so kriegsmüde wie Oberst Gudi Kfirel und die vier Reservisten, die uns begleiten. Und dann, ich mag mich irren, aber das, was ich erkennen kann, die Hochhäuser, die im Dunkel bleiben, aber stehen, verlassene Obstwiesen, die Khalil-al-Wazeer-Straße mit geschlossenen Läden, zeigt, dass die Stadt geschockt, terrorisiert, zum Mauseloch geworden ist – aber sie wurde nicht dem Erdboden gleichgemacht. Man hat hier nicht gewütet wie in Grosnyj oder Sarajevo.

Ehud Olmert in Jerusalem. Er beschreibt nicht ohne Komik das Ballett der Vermittler, die es immer zu eilig haben. Er kommt auf die Doppelrolle von Mubarak zu sprechen, den die internationale Gemeinschaft zwingen müsste, den Waffenschmuggel zu beenden. Dann schlägt er einen anderen Ton an. Gedämpfter, als spreche er vertraulich, erzählt er vom letzten Besuch von Mahmud Abbas vor drei Wochen. „Ich habe ihm ein Angebot gemacht: 94,5 Prozent des Westjordanlands. Dazu 4,5 Prozent im Tausch von Territorien. Dazu ein Tunnel, unter seiner Kontrolle, von Gaza ins Westjordanland, der dem noch fehlenden Prozent entspricht. Und für Jerusalem die einfache, aber logische Lösung: Die arabischen Viertel für ihn, die jüdischen für uns. Die heiligen Stätten unter einer gemeinsamen Verwaltung aus Saudis, Jordaniern, Israelis, Palästinensern und Amerikanern. Abbas hat mich gebeten, ihm die Karte zu überlassen, auf der ich das eingezeichnet hatte, aber das wollte ich nicht. Ich weiß, dass er sie beim nächsten Treffen zum Ausgangspunkt einer Gegenverhandlung genutzt hätte. Aber gut, das Angebot steht. Ich warte.“

Kann es sein, dass wir so nah am Frieden vorbeigeschrammt sind?

Mahmud Abbas ist nicht in Ramallah, der Hauptstadt der gemäßigten Palästinenser, er ist in Kairo. Ich treffe Mustafa Barghouti, den Präsidenten der palästinensischen Relief Society, und mit ihm auch Maduh Aker, den Arzt und Veteranen des israelisch-palästinensischen Dialogs. Keiner von ihnen glaubt an die Seriosität eines Friedensangebots, das ein ausscheidender Premier unterbreitet. Beide fällen ein strenges Urteil über Abbas, dem sie vorwerfen, einen Polizeistaat zu errichten. Und ich spüre vor allem, wie sie auf alles verzichten, was die Hamas belasten könnte, der, wie sie wissen, die Solidarität der Palästinenser auf den Straßen gehört.

Und doch. Da ist der eine, der voller Nostalgie den saudischen Plan erwähnt, der eine Koexistenz beider Staaten vorsieht. Da ist der andere, der seinen offenen Brief an Rabin erwähnt, den keine arabische Zeitung drucken wollte und der darum 1988 in der „Jerusalem Post“ erschien. Und auf der Rückfahrt sind da diese jungen Männer und die unverhüllten Gesichter der Frauen, die mit mir am Kaladyia-Checkpoint warten, um nach Jerusalem einzureisen. Da überrasche ich mich selbst und fange an, wieder daran zu glauben. Es gibt sie noch, die Gesprächspartner für Israel. Es gibt sie, die Partner für einen zukünftigen Frieden. Einen Frieden trotz alledem. Ein Frieden jenseits der Zerstörungen und der Tränen. Einen in der Vernunft begründeten Frieden, ohne Überschwang – und gerade darum womöglich schon mit Händen zu greifen.

Zwei Völker, zwei Staaten in einem nüchternen Frieden.

Aus dem Französischen von Nils Minkmar.

Bildmaterial: Alexis Duclos

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