Benny Morris: Palästinensische Schizophrenie

Sari Nusseibeh erinnert sich und steckt im Zwiespalt zwischen Herz und Verstand
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Im Chaos und Trauerspiel der palästinensischen Gegenwartsgeschichte ist Sari Nusseibeh eine der berückenderen Figuren. Er hat in Oxford und Harvard studiert und lehrt mittelalterliche islamische Philosophie. Von Natur aus, versichert er, verabscheue er Gewalt, ein “Träumer” im “fadenscheinigen englischen Tweed-Jackett.” Nichtsdestoweniger hat er weite Teile seines Lebens im Eingemachten des nationalen palästinensischen Kampfes verbracht und es dabei fertiggebracht, sowohl seine Landsleute als auch die Israelis gegen sich aufzubringen. Auf palästinensischer Seite hat er Selbstmordattentate und Korruption verurteilt, auf israelischer die Übel der Besetzung gegeißelt.

Israelische Sicherheitsexperten, verrät er stolz in seiner Autobiographie “Es war einmal ein Land”, hätten ihn “das menschliche Antlitz des palästinensischen Terrors” sowie einen “Wolf im Schafspelz” genannt. In der Tat, was er über seine Rolle bei der ersten Intifada (von 1987 bis 1991) und die Jahre danach enthüllt – er habe Flugblätter zur Instruktion der aufständischen Massen verfasst und Geld aus Jordanien geschmuggelt -, mag nicht die ganze Wahrheit sein.

Sei es wie es sei, die letzten 14 Jahre hat Nusseibeh (derweil er mal und mal nicht in Komitees der PLO und der Palästinensischen Autonomiebehörde saß und für kurze Zeit Arafats Statthalter in Jerusalem war) als Präsident der Al-Quds Universität in Ost-Jerusalem fungiert, einer Brutstätte des palästinensischen Aktivismus in einer von Israel annektierten Stadt, die in mancherlei Hinsicht – wenn auch nicht demografisch – den Prozess einer “Judaisierung” erlebt.

Es ist ein bemerkenswertes Faktum der palästinensischen Politsoziologie, dass Nusseibeh einer der wenigen Sprösslinge einer traditionell elitären arabischen Familie ist, die in der Nationalbewegung von nach 1967 eine Rolle gespielt haben. Nusseibeh ist ein Prinz. Er führt seine Herkunft bis auf einen Ubadah ibn al-Samit vom Stamm der Khazraj zurück, der den Kalifen Omar bei Eroberung Jerusalems anno 638 begleitete und dort zum ersten “hohen Richter” der Muslime ernannt wurde. Irgendwie entgeht dem Anti-Zionisten Nusseibeh das moralische Paradox einer blutigen Besitznahme Palästinas durch die Araber, liegt diese auch 13 Jahrhunderte zurück. Familiengeschichte und palästinensische Geschichte durchwehen diese Erinnerungen – was die Vielzahl an Fehlern, die sie enthalten, noch bizarrer wirken lässt. Besonders verblüffend ist dabei die Ignoranz Nusseibehs im Umgang mit der palästinensischen Geschichte. So schreibt er, dass Musa Kazim al-Husseini 1921 “Präsident des Arab Higher Committee” gewesen sei. Tatsächlich wurde das AHC erst 1936 gegründet, zwei Jahre nach Musa Kazims Tod. Weiter heißt es, dass der palästinensische Held und Rebell Isedin al-Kassam (nach dem die Hamas ihre Kassam-Raketen benannt hat, die sie täglich auf den Süden Israels abfeuert), “gehängt” worden sei. Tatsächlich starb er bei einem Schusswechsel mit den Engländern. Oder er schreibt, der arabische Aufstand von 1936 habe mit “einem harmlosen Faustkampf in Jaffa” begonnen. Tatsächlich begann er mit der Ermordung jüdischer Lastwagenwagenfahrer in der Nähe von Tulkarm. Unfassbar, dass Nusseibeh die Empfehlungen der Peel-Kommission als “Plan für einen Dreier-Rat” beschreibt, als “Modell der Machtteilung, das ein von Juden, Muslimen und Christen gleichberechtigt regiertes Land vorsah”. Tatsächlich war es die Peel-Kommission, die die Idee, das Land in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufzuteilen, erstmals aufbrachte. 1946/47, stellt Nusseibeh fest, “legten die Briten einen weiteren Teilungsplan vor” – tatsächlich war London zu dieser Zeit gegen eine Teilung.

Wie die Unterstützung für die fundamentalistische, antisemitische Hamas-Bewegung in den Wahlen von 2006 gezeigt hat, wird Israel von den meisten Palästinensern verständlicherweise gehasst. Nusseibehs Verhältnis hingegen ist gespalten, im Grunde schizophren. Diese Schizophrenie allerdings ist eine besondere: Statt zwischen zwei Persönlichkeiten, verläuft ihre Demarkationslinie bei Nusseibeh zwischen Herz und Verstand. Sein Verstand akzeptiert die historische Verbindung der Juden zum Land und die Legitimität des Zionismus, die daraus folgt, und er nimmt die Vorzüge der israelischen Gesellschaft und Politik, ihre Offenheit, Geradlinigkeit, Demokratie und Kreativität zur Kenntnis, und strebt eine vernünftige, logische Zweistaatenlösung an: Israel in den Grenzen von 1949 für die Juden und “Palästina” – gemeint sind Westbank, Ost-Jerusalem und der Gazastreifen – für die palästinensischen Araber. Doch sein Herz fühlt anders. Es reitet auf, wie er es sieht, geschehenem Unrecht herum: die Juden/Zionisten hätten seinem Volk das Land gestohlen und unterdrückten und demütigten es, nach wie vor. Nach diesem Buch zu urteilen, scheinen Wut und Empörung dabei ebenso sehr aus persönlich-familiärer Erfahrung zu rühren wie aus der kollektiven Geschichte seines Volkes. Wieder und wieder ruft Nusseibeh in Erinnerung, wie sein Vater im Kampf mit den Israelis 1948 ein Bein verlor und sich später gegen israelische Schikanen zur Wehr setzte (“Vater” scheint eine beinahe gottgleiche Stellung in Saris Psyche einzunehmen). Und wieder und wieder erinnert er daran, wie seine Mutter 1948 das Haus ihrer Väter verlassen musste und der Besitz der Nusseibehs konfisziert wurde.

Indessen wird der gemäßigte Nusseibeh von radikalen palästinensischen Studenten aus seiner Fatah verprügelt; indessen tut er sich mit Ami Ayalon, dem ehemaligen Direktor des israelischen Geheimdienstes Shin Bet, zusammen. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie 2002 eine Zweistaatenlösung in den Grenzen von 1967, die Teilung Jerusalems, den Abschied vom “Rückkehrrecht” und die Demilitarisierung eines zukünftigen palästinensischen Staates. Die Nusseibeh-Ayalon-Vereinbarung folgte mehr oder weniger dem Friedensplan Bill Clintons vom Dezember 2000, den Arafat abgelehnt hatte.

Zugleich jedoch steckt Nusseibehs Buch voller antiisraelischer Spitzen und Anklagen, viele davon verlogen, manche gar paranoid. Ohne solide Beweise macht Nusseibeh den Geheimdienst Shin Bet für den Mord an einem deutschen Rucksacktouristen in den Achtzigerjahren verantwortlich – wo doch die Tat, logisch gesehen, viel besser zu einem arabischen Terroristen passen würde. Wiederholt wirft er israelischen Regierungen vor, gemäßigte Palästinenservertreter untergraben zu haben, um Extremisten zu stärken, die sie im Westen dann als wahre Vertreter des palästinensischen Volkswillens und der palästinensischen Politik hätten präsentieren können. So wirft er den Israelis vor, im Versuch die zweite Intifada von 2002 zu unterdrücken, gegen seinen gemäßigten Freund Dschibril Radschub vorgegangen zu sein, Chef der Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde, während der Hamas-Führer Scheich Ahmad Jassin sich hätte frei bewegen können. Das ist blanker Unsinn. Innerhalb von Monaten wurden Jassin und sein Nachfolger Abdul Aziz Rantisi von israelischen Kampfhubschraubern aus getötet, eine Vergeltungsmaßnahme für die massiven Selbstmordattentate auf israelische Städte. Ganz allgemein steckt Nusseibehs Darstellung der israelischen Reaktion auf den Terror der zweiten Intifada voller empörender Falschdarstellungen. Etwa behauptet er, dass sich die Zahl der Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung durch israelische Angriffe auf Krankenwagen und Ärzte noch erhöht habe. Das ist Unsinn. Es ist kein Fall bekannt, in dem israelische Truppen willentlich arabische “Ärzte” oder Rettungskräfte getötet hätten. Dass Palästinenser Krankenwagen zum Transport von Kämpfern und Waffen eingesetzt haben, ist hingegen gut dokumentiert.

Vielleicht nimmt es nicht wunder, dass Nusseibehs schizophrenes Verhältnis zu Israel sich über die Jahre im Verhältnis der israelischen Behörden zu Nusseibeh widergespiegelt hat. Er wurde und wird von Israels Mitte und seiner Linken umworben und gilt als herausragendes Beispiel für die Vernunft inmitten einer moralisch und politisch dahindriftenden arabischen Welt. Andererseits wurde er zwischenzeitlich geheimdienstlich überwacht und einmal ein Vierteljahr lang von den Behörden festgehalten. Für die Rolle, die er bei der ersten Intifada gespielt hat, allerdings wurde er weder verhaftet noch vor Gericht gestellt – dabei verfügt der Shin Bet über solide Beweise gegen ihn. Nusseibeh also hat wahrhaftig keinen Grund zur Klage, auch wenn er sich ausführlich beklagt.

Eine letzte Bemerkung: Nusseibeh, eingesponnen in sein verwestlichtes Upper-Class-Milieu, scheint weiterhin blind für den islamistischen Fundamentalismus in Palästina und der arabischen Welt. 9/11, der Irak und Afghanistan erwähnt er kaum; vielmehr versichert er dem Leser gleich zu Anfang, die Palästinenser hätten über die Jahrzehnte den Wunsch ausgeprägt, in Frieden mit Israel zu leben. Man wünscht, es wäre wirklich so.

Sari Nusseibeh mit Anthony David: Es war einmal ein Land. A. d. Engl. v. G. Gockel, K. Förs und Th. Wollermann. Kunstmann, München. 528 S., 24,90 Euro.

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